Paul Nizon – Meine Literaturempfehlungen 2021

# Zufälle

Paul Nizon, ein Wortmillionär der Glühpünktchen setzt
«Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns», sagt Franz Kafka. Genau so schreibt der Schweizer Autor und Paris-Citoyen Paul Nizon Bücher — für mich eine der aufregendsten Entdeckungen seit ich Bücher lese. Erst mit dem Dokumentarfilm «Der Nagel im Kopf» (2020) bin ich auf sein Werk neugierig geworden. Ich erinnere mich: Mit 20 Jahren habe ich «Diskurs in der Enge» gelesen, aber nicht verstanden. Die Romane, Erzählungen und Journale verzaubern. Ein Magier der Sprache, ein Erleben wie ein Erdbeben. Lebendiger als lebendig. Paul Nizon wird in Frankreich verehrt und ist fest im Gedächtnis der Literatur verankert und allgegenwärtig anzutreffen. In der Schweiz hat er die Anerkennung nicht. Deshalb sind meine Literaturempfehlungen vom 2021 nur Paul Nizon und seinem Werk gewidmet. Suhrkamp verlegt Paul Nizon seit Beginn, vielfach ausgezeichnet, wenig verkauft und immer noch ein Geheimtipp im deutschsprachigen Raum.

Beachtenswert: Den «Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur» haben nur drei Schweizer Schriftsteller bis heute erhalten: Paul Nizon (2010), Friedrich Dürrenmatt (1987) und Jürg Läderach (1996).

Foto © Jerry Bauer, Suhrkamp Verlag

© Covers, Suhrkamp Verlag
 

Paul Nizon, Gesammelte Werke, 1963–1999
7 Bände, Romane und Erzählungen: Canto, Im Hause enden die Geschichten, Untertauchen, Stolz, Das Jahr der Liebe, Im Bauch des Wals, Hund, Schweiz/Paris.

Nizon schreibt aus dem Leben. Wo ist das Leben? Nizons Bücher sind lebendiger als lebendig. Intensiv und herrlich. Ich bin mittendrin. Nizon feiert das Leben und die Frauen. In Paris angekommen beginnt «die Schule der Einsamkeit». «Les Maisons des rendez-vous» retten Nizon in den ersten zwei Paris-Jahren, als er an «Liebesvergiftung» krankt. Nizon sagt zu Beat, einem Freund: «Verstehst du nun, warum ich auf alle edlen Kulturgüter mitsamt Literaten- und Künstlervolk und Intellektualismus verzichte, ja darauf pfeife? Kultur muss sich im Alltag, also zum Beispiel im Bordell bewähren, oder sie zählt nicht.» Seine Sprache ist gross, bewusst gesetzt, unverwechselbar. Leben und Schreiben sind radikal verbunden. Ein Beobachter des Alltags, des Selbst und Selbstverlustes mit weit geöffneten Sinnen. Der Eintopf des Lebens.

© Covers, Suhrkamp Verlag

Canto
1999/1963, 250 S.
Eine Wortwucht. Unglaubliche Sätze. Musikalisch und rauschhaft. Nizon als Stipendiat in Rom. Hier fühlt er sich zum ersten Mal frei und die «römischen Erlebnisse» verändern sein Leben: «Im Anderen Land. Vom Ding, das nicht Rom ist». Bummelnd vagabundieren, die Tage verschlafen, zerfliessen lassen. Rom ist der Rahmen und Paul Nizon nimmt uns mit auf die Reise seines Fühlens. Er liebt die Freiheit und die stellt er über alles. So durchleben wir Rom mit allen Sinnen. Er kennt die Mädchen der Strasse und der Bordelle und sieht keine Huren, sondern Frauen, Menschen. In dieser Zeit stirbt der Vater in Bern und damit wird es auch ein Vater- und Todesbuch. «Canto» ist eine Ballade für Seelenwanderer und nicht für Romtouristen. Ein einzigartiges Buch.

Im Hause enden die Geschichten
1999/1971, 212 S.
Treppenhäuser werden erstiegen wie Berggänger das tun, in jeder Etage wird aufgeschnauft. Die verschlossenen Wohnungstüren, die Essgemeinschaften oder Zankgemeinschaften — selten Gelächter. Taggeräusche. Lebenszeichen. Im Treppenhaus, im weiten Darm des Hauses, ist kein Tag. Dafür das saure Klima der Verspeisung. Ein Film in Worten, eine Stimmung in Gerüchen. Ein umwerfendes Bild eines Hauses und seiner erstarrten Bewohner. Das grossbürgerliche Elternhaus ist geprägt vom Frauenregime und den Pensionären, die das Haus-und Familienleben wegleben. Der Junge Paul wird Gast in der eigenen Familie wie sein Vater, der russische Emigrant und Doktor der Chemie. Die Zustände im Berner Länggasshaus werden nach dem Tod des Vaters noch grotesker. Hier beginnt sein Doppelleben, ein Abtauchen in die eigene Welt, das Land der Träume und in die Gegend der Phantasie.

Untertauchen — Das Protokoll einer Reise
1999/1972, 105 S.
Ein Auftrag führt ihn erstmals nach Barcelona, direkt in einen Nachtclub. Es ist ein Heimkommen. Dieser Aufenthalt verändert sein Leben komplett: Für einige Wochen ist er verschollen. Danach ist er ohne Arbeit, ohne Beruf, ohne Einkommen und ohne Familie. Seine Erfahrungen, die Zerstörung seines Lebens und wie er befreit mit dem Schreiben abseits von Prestige & Sicherheit loslegt ist intensiv aufwühlend.

Stolz
1999/1975, 194 S.
Die Romanfigur «Stolz» ist ein Aussenseiter. Ein junger Mann ohne Ansichten und Aussichten, der sich nach dem Abitur treiben lässt, von Hilfsarbeiten lebt, in eine Ehe schlittert und Affären hat. Stolz befindet sich in einem Wartezustand. Zunehmends wird Stolz sprunghaft, unkonzentriert und verfällt in eine Depression. Eines Tages bricht er auf, geht an die Waldgrenze, in den Wald hinein und findet nicht mehr hinaus. Verirrt, müde gelaufen, erfriert er. Es ist ein Metapher für einen Vorgang, in den sich Stolz innerlich längst hat fallen lassen.

Das Jahr der Liebe
1999/1981, 321 S.
Dieses Buch duftet wie eine Erinnerung. Es segelt wie eine Seifenblase durch die Luft und schillert geheimnisvoll in allen Farben. Nizon: «Das Leben ist zu verlieren oder zu gewinnen. Wenn ich sage, ich suche das Leben, dann meine ich, dass ich das Lebendigsein suche, das Erwecktwerden, die Erweckung.»

Im Bauch des Wals
1999/1989, 180 S.
Abrupte Platzwechsel. Wie Ziegensprünge. Fünf Caprichos: Jugend und Alter, Leben und Tod, Liebe, Einsamkeit, Glück. Cinematografisch und bezaubernd die Beobachtung der knutschenden Halbwüchsigen «mit Mündern noch zu gross fürs übrige Gesicht». «Sie tranken sich die Münder leer, zusammengeleimt, am liebsten wären sie zu einem Baum verschmolzen.» Träume, einmal wach, gibt es keine Rückkehr. Was bleibt vom Traum übrig und was muss man unternehmen, um fliegen zu können? «Manchmal jedoch bin ich in meinem Traum geborgen wie im Bauch des Walfischs und fliesse durch weite Meere». Aufwachen, die Strassen liegen still da, wann stehen die Strassen auf? Paul Nizon ist ein Wortmillionär.

Hund — Beichte am Mittag
1999/1998, 138 S.
In Nizons Worten: Dieses Buch rollt dahin wie ein menschliches Gepäckstück, man verliert den Zeitbegriff, es läutert, häutet und eine herrliche Müdigkeit macht sich am Ende breit: «Nur auf der Strasse war mir wohl, unterwegs und knietief im Alltag der andern. Auf dem Trottoir, auf den schwatzhaften und von so viel Geschehen buntgescheckten Trottoiren.» / «Das Geheimste war öffentlich und das Öffentliche geheimnisvoll. In einer Stadt wie dieser, dachte ich früher, ist die Erregung des Trottoirs ein Gemisch aus Gedankenaufruhr und Sinnesverwirrnis. Ein Gemisch aus Literatur und Sünde, Parfüm und Druckerschwärze, Kaffeedünsten, entblösstem Fleisch, Mode, Krankheit und Mord, Liebe, Tapferkeit, Traum.» / «Das Leben bestehen, heisst den Alltag bestehen und von Zeit zu Zeit zum Leuchten bringen.» / «Das Leben ist nicht in eine Geschichte zu packen. Geschichten sind Anschläge auf das Leben.»
 

Journale der Gegenwart, Paul Nizon (1961–2020)
Paul Nizon ist Pariser. Augenmensch. Ohrenmensch. Ein Maler der Worte. Wege und Bewegungen — die kleineren sind die wichtigeren. Marschieren. Auf dem Weg durch die Stadt, vom Wohnort zum Schreibort und umgekehrt. Bern, Kalabrien, Zürich, München, Rom, London, Barcelona, Toskana, New York etc. und immer wieder Paris. 60 Jahre Feiertage, denn das sind seine Werktage. Anekdotisch und mit Humor berichtet er aus der literarischen Werkstatt und zeichnet kunstvoll Portraits von Zeitgenossen. Grandios, warm, nie langweilig. Die Journale sind Literatur, Fiktion und Autobiographie: Es entsteht menschlich etwas Grosses, ein sich Öffnen wie eine submarine Flora der Seele, mit sehr persönlichen Offenbarungen und Selbstreflexionen.

© Covers, Suhrkamp Verlag

Der Nagel im Kopf
Journal 2011–2020, 2021, 228 S.

Urkundenfälschung
Journal 2000–2010, 2012, 375 S.

Die Zettel des Kuriers
Journal 1990–1999, 2008, 240 S.

Die Innenseite des Mantels
Journal 1980–1989, 1995, 332 S.

Das Drehbuch der Liebe
Journal 1973–1979, 2004, 300 S.

Die Erstausgaben der Gefühle
Journal 1961–1972, 2002, 248 S.
 

Dokumentarfilm «Paul Nizon: Der Nagel im Kopf»
Ein gelungener Dok-Film der andern Art von Christoph Kühn. Nahe dran. Paul Nizon ist sich selbst wie in seinen Büchern. Es ist wie eine Verfilmung von Nizons Texten. Kein Storytelling, Dokumentarisches vermischt sich mit Fiktion.

Dokumentarfilm «Paul Nizon: Der Nagel im Kopf» von © Christoph Kühn, 2020, 80′, venturafilm & filmcoopi

© Filmplakat Filmcoopi/Christoph Kühn
 
Service-Links
→ Gesammelte Werke, Romane, Erzählungen, 7 Bände, 1999, CHF 56.80
→ Gesamtwerk 50 Jahre Paul Nizon: Romane, Erzählungen, Journale (1966–1999): 1488 Seiten, 2009, CHF 34
→ Dokumentarfilm über Paul Nizon online ansehen
 
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© Irene Jost: «Ich habe mir Worte von Paul Nizon geliehen»

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