Meine Literaturempfehlungen 2020

# Zufälle

 

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7 Bücher, leuchtend vielstimmig: Ausnahmezustand, Katastrophe, Apokalypse und eine neue Sprache. Vier Bücher zu Familie und deren Gewicht: Schicksal und Schaffenskraft und darüber was in unserem Inneren tobt gegenüber der Wirklichkeit. Eine (Musik)Gesellschaftssatire zu Retrowahn, Rache und Rassismus. Mit Virgínia durch die Welt gehen und an ihrem inneren Reichtum teilhaben — sinnlich wie Wasser.


 

Ice Cream Star
Sandra Newman, USA, 2019 (2014/E), 667 Seiten

Ein besonderer Roman, der in jeder Hinsicht überzeugt: Die Brillanz der vollkommen neuen Sprache ist das faszinierendste Merkmal. Slangartig, mit Metapher- und Bilderreichtum bringt Newman alles zum Glühen: «Der Tag ist schon alt, als ob er mich über hat.» «Ich hör das Feuer wie schnarchenen Schlaf.» «Der Krach schreckt mich schwach.» «Dann geh ich weiter, mit ner ziehigen Schüchternis in meim Fleisch.» Nervös ist nerviös. Oktober ist Tober, November ist Vember, Dezember ist Zember. Wir befinden uns 80 Jahre nach der Apokalypse in Nordamerika, wo eine Pandemie alle Weissen ausge-löscht hat und während die Farbigen überleben. Erwachsene gibt es nicht. Mit 18, 19, 20 erkranken die Farbigen seither an «Posies»: Auf Husten folgen bald schwarze Flecken und dann das qualvolle Ende innerhalb weniger Monate. Die postapokalyptische Geschichte wird aus Sicht der Fünfzehnjährigen Ice Cream Star erzählt, die bereits zur älteren Generation zählt. Sie ist schwarz, was überhaupt nicht wichtig ist, mit unerschütterlichem Optimismus, wild und mit ernsthaftem Herz. Die Gesellschaft ist in Gruppen zerfallen. Allianzen hängen ab von den Gefahren Hunger, Sklaverei, Entführung, Vergewaltigung und Krieg. Die Sengles sind die Ärmsten, verbündet mit Lowells und Christlingen. Die Nat Mass Army hält Mädchen als Sexsklavinnen, ist aber zur Not ein Partner. Ice Cream Star ist eine Sengele. Mit ihrem Bruder Driver, ihren Sengle-Leuten — einem Universum aus Kindern — zieht sie von den Wäldern in Massachusetts bis nach New York, im Kampf, um ein Mittel gegen den jungen Tod mit Poises zu finden. Sie leben von dem, was sie jagen oder klauen können. Ein Leben, das mit 20 endet: Das ist die Perspektive der Figuren. Der Roman erzählt von einer Extrem-form der Endlichkeit und dem Versuch, das Sterben zu verschieben. Daneben ist Ice Cream Star in ihren Beobachtungen erfrischend: «Die Catolicos glauben an den Zweistockchristus. Ham diese ganze Bibelgeschichte mit dem Wasserlaufen und den grosszügigen Fischen. Wie Jesus von Maria geboren wurde, die ne Jungfrau war. Papa Josef steht pfeifend daneben, hat kein Sex zu tun.» Mich hat der Roman im Lockdown an den Balkon gefesselt — ein Glanzlicht. Die exzellente Übersetzung in Deutsch steht dem Original über 600 Seiten in der Ausdrucksweise in nichts nach!


 

Je tiefer das Wasser
Katya Apekina, USA (Russland), 2020 (Debüt 2018), 393 Seiten

Archaisch schicksalhaft. Mitreissend erzählt. Die beiden Schwestern Edith und Mae. Der weltberühmte Schriftsteller und Künstler Dennis Lomack. Seine Frau Marianne, als ausgequetschte Muse, unbekannte Dichterin und lebensunfähige Mutter begeht einen Selbstmordversuch. Nebenfiguren: verschiedene Geliebte des Vaters, seine Schwester, ein Studienfreund, eine Freundin der Mutter, Nachbarn, Freunde von Edith. Das Besondere an diesem Roman: Das multiperspektivische Ich-Erzählen der Hauptfiguren Edith (gefolgt von Mae) und der Nebenfiguren sowie die unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven-wechsel. Die Mutter tritt oft nur in Form von Gedichten und rätselhaften Briefen auf, die vieldeutig sind. Tagebucheinträge von Dennis Lomack über Marianne aus der Frühzeit ihrer Liebesbeziehung tauchen ebenso auf. So bleibt das Gesamtbild mit Lücken, was mir sehr gefällt. Ungute Verflechtungen, krankhafte Abhängigkeiten. Die Kinder versuchen, dem toxischen Wirkungskreis der zerrütteten Künstlerfamilie zu entkommen. Der Vater ist ein getriebener Egomane, gewissen- und verantwortungslos. Ein Vampir mit Sinn für den Augenblick: Er benutzt seinen Studienfreund, seine Frau, seine Tochter Mae erbarmungslos für seine hochgelobten Romane. Ein Manipulator. Alle seine Romane sind Produkte seiner krankhaften und zerstörerischen Ausbeutung. Mae schafft es durch die Kunst, sich zu befreien: «Kunst ist ein Messer. Du musst bluten.» Die Menschen und die Kunst sind nicht unschuldig. Kunst vermag Menschen zu brechen und zusammenzufügen.


 

Sarah
Scott McClanahan, USA, 2019, (1970), 205 Seiten

Amerikanischer als amerikanisch. Punk-Poesie. Erhaben und vulgär. Klug und kitschig. Es geht um ein Paar, das sich liebt, das aber nicht zusammen leben kann, weil man sich nicht aushält. Die Figuren drehen sich fortwährend in Alkoholismus, Missbrauch und Ödnis. Es wird gesoffen, gefressen, gekotzt, geliebt. Absurde Wendungen und Taten. Sarah und Scott. Beide haben eine Grundgüte. Beide haben Humor: von sarkastisch bis reflexiv. Scott führt zerfleischende Selbstgespräche. Scott als Autor und Protagonist: autobiografisch. Ein herausragender Autor. Sehr gut übersetzt von Clemens Seitz.


 

Ich war Diener im Hause Hobbs
Verena Rossbacher, Österreich, 2018, 381 Seiten

Ein farbenprächtiges Lesevergnügen. Absurd und herzlich. Ein Gesellschaftsportrait. Aus dem Abstand vieler Jahre erzählt Christian von seiner ersten Anstellung als frischgebackener Absolvent einer renommierten Dienerschule bei der neureichen Zürcher Familie Hobbs, bei der er mehr als zehn Jahre beschäftigt war. Butler sind diskret und loyal, hören und sehen alles. Christian entgeht bei seinen Beobachtungen jedoch einiges. Er findet eines Tages den Hausherrn im blutverspritzten Gartenpavil-lon tot auf. Aus der Distanz der Jahre will er das Rätsel lösen, was damals wirklich passiert ist und wie es dazu kam. Christian und andere Figuren im Buch spielen mir ihrer Identität. Einige verleugnen Herkunft und Identität. Abenteuerliche Abstecher führen uns in die Jugend von Christian mit seinen Freunden Olli, Isi und Gösch im Voralberger Provinzdorf Feldkirch. Wir erfahren immer mehr über die einzelnen Figuren: Vom Aufwachsen und wie persönliche Identität entsteht. Die Erzählfäden werden ausgelegt, zusammengezogen und weitergesponnen oder verstrickt. Das ist hinreissend und mitreissend erzählt. Wo hört die spielerische Selbstverwirklichung auf? Wo beginnt das Doppelleben und damit Lüge, Betrug und Täuschung? Einblicke in die Abgründe. Absturzgefahr. Dieser Roman lässt sich nicht einordnen und das ist gut so.

Der Debüt-Roman «Verlangen nach Drachen» hat mich ebenfalls begeistert, höchst eigenwillig, mit schrägen Vögeln, einer dichten Atmosphäre. Komisch. Umwerfender Witz.


 

Frau im Dunkeln
Elena Ferrante, Italien, 2019, (2006/I), 188 Seiten

Flirrende Sommerhitze an der Küste Süditaliens, unbeschwerte Tage. Leda ist 50, geschieden, Mutter zweier erwachsener Töchter und unterrichtet Englisch an der Universität in Florenz. Sie verbringt ihre Tage langsam, mit Büchern und Sonne oder beobachtet die Menschen am Strand. Ein Familien-Clan zieht ihr voyeuristisches Interesse auf sich. Bunt, gewöhnlich und vulgär. Alles scheint vordergründig harmonisch. Leda ist von der erotischen Kraft der jungen Mutter mit ihrem Kind hingerissen: «Aus ihrem Gesicht sprach der beständige Wunsch, ihrer Mutter nah zu sein: ein ohne Tränen oder Launen vorgetragenes Flehen, dem die Mutter sich nicht entzog», schreibt Elena Ferrante. «Sie lachten und genossen es, Körper an Körper zu sein, stupsten sich mit den Nasen, spuckten kleine Fontänen, gaben sich Küsse.» «Die junge Frau war schön, doch erst ihr Muttersein machte sie zu etwas Besonderem, sie schien nur ihre Tochter im Sinn zu haben.» Leda wird zum Störfaktor, indem sie eines Tages die Puppe des Kindes entwendet. Damit sabotiert sie die Ordnung der jungen Mutter zu ihrem Kind. Die zerstörerische Negativspirale beginnt. Die junge Mutter des Kindes gerät ins Wanken, mit ihrem Leben, ihrer Situation, ihrer vorgeschriebenen Rolle im Clan. Der Puppendiebstahl löst eine Menge von Handlungen und Verkettungen aus und alles endet in einem Scherbenhaufen. Warum tut Leda das? Wahlverwandtschaft, Anziehungskraft, Konfrontation mit der eigenen Herkunft, verblasste Träume, in Versuchung führen, Irrationalität, Ambivalenz, Angst, Stolz, Reflexion mit dem eigenen Leben und Entscheidungen …? Am Ende geht es um die Frage, was es bedeutet, eine Frau und Mutter zu sein — und dabei eigene Wege gehen zu wollen und nicht dem gesellschaftlichen Ideal zu entsprechen.

Ebenfalls empfehlenswert, die vierbändige «Neapolitanische Saga»: ich mag ihr Lebensgefühl, die pralle Handlung und die meisterliche Erzählung aller Figuren und Dialoge. Eine makellose schlichte Schreibe.


 

White Tears
Hari Kunzru, UK, 2017, 350 Seiten

Fake Blues. Magischer Realismus. Geschichte in zwei Teilen. New York heute. Zwei Nerds, Seth und Carter, Schulfreunde, beide weiss, Musik- und Plattenvernarrt. Carter kommt aus einem vermögenden Elternhaus, dessen Familienbesitz tief in der amerikanischen Geschichte fusst. Seth, der Ich-Erzähler, ist der mittellose Aussenseiter mit dem Gespür für Musik. Carter der charismatische Millionenerbe mit dem nötigen Geld für Sammlung, Instrumente und Computer. Seth ist stets auf der Suche nach Tönen. Auf einem Streifzug im Washington Square Park nimmt er den Bluessong eines Strassensängers auf, der sie fortan wie ein Fluch verfolgen wird und Carter später aus der Handlung ins Koma wirft. Die Hipster Produzenten versuchen sich die schwarze Musik anzueignen. Blues, Jazz und Soul sind für sie erst Flucht aus der Kälte einer digitalen Gegenwart, dann Obsession. Als sie nach New York ziehen, beherrschen sie die Formen und Stile vom Blues bis zum Hip-Hop in einer Perfektion, die sie zu begehrten Musikproduzenten werden lässt. Sie basteln aus dem im Park aufgenommenen Gesang einen Fake-Blues-Song. Anschliessend erfinden sie Interpret und Label, stellen den Song ins Internet und gaukeln einer von Echt- und Reinheit besessenen Fanszene vor, es handle sich um eine bisher unbekannte Aufnahme aus dem Jahr 1928. Hier wird auf den Raub der schwarzen Musik in Mississippi und Chicago durch den Pop hingewiesen und damit auf die Klassen- und Rassenkonflikte. Nach dem Erfolgssong führt sie ihr Sammelwahn nach Mississippi und hier beginnt der zweite Teil mit einem Roadtrip und der Geistergeschichte mit den verschiedenen Zeitebenen. Das Leben von Seth erodiert wie die Zeitgrenzen verschwimmen. Brillant. Kunzru beschreibt Klänge, Musikstile, -merkmale meisterlich ohne sich in Namen und Labels zu verlieren. Eine gelungene Gesellschaftssatire, in der das Grauen sich langsam ausbreitet. Die Verlogenheit der «authentischen Hipster» und der hungrigen Industrie und Gesellschaft wird präzise abgebildet und die Figuren psychologisch markant durchleuchtet. Ein Sog von der ersten bis zur letzten Seite.


 

Der Lüster
Clarice Lispector, Brasilien, 2013/16 (1946/Rio de Janeiro), 360 Seiten, ein Literatur-Klassiker

Mit Virgínia durch die Welt gehen und ihr inneres Erleben miterleben — grandios. Sie vollzieht das innere Erleben sprachlich und spiegelt die inneren Prozesse in der Wortfolge wider. Ihre subjektiven Wahrnehmungen sind wie eine Meditation, ein Riechen, Sehen, Fühlen. Ich bin der Empfehlung des Übersetzers gefolgt und habe das Buch in Häppchen à 5 Seiten gelesen. Der Schreibstil ist so eigen, die Prosa so ungewohnt schön, ich habs gleich zweimal gelesen. Textspuren: «Sie grüsste wie eine Post-karte, lächelte dabei voll kalten Lebens.» / «Am folgenden Morgen löste sich von einem hohen Baum ein Blatt und schwebte für riesige Minuten in der Luft, bis es am Boden zu liegen kam.» / «In der Kindheit hat es Anis als Bonbons gegeben. Immer noch derselbe Geschmack, der an der Zunge klebte, die Kehle wie ein Fleck, dieser traurige Weihrauchgeschmack, jemand, der etwas Begräbnis schluckte und etwas Gebet.» / «Ja, manchmal dachte sie eben derart abgemagerte Gedanken, dass sie plötzlich entzweibrachen, bevor sie das Ende erreichten.» / «Der Geruch eines leeren Hauses. Aber der Lüster! Da war der Lüster. Der grosse Kronleuchter glühte weiss. Sie betrachtete ihn reglos, beunruhigt, als ahnte sie ein schreckliches Leben voraus. Dieses Dasein aus Eis. Einmal! Einmal, bei
einem raschen Blick — versprühte der Kronleuchter Chrysanthemen und Freude. Ein anderes Mal — während sie durchs Esszimmer rannte — war er ein züchtiger Samen. Der Lüster.» Oberflächlich betrachtet erzählt der Roman die Geschichte einer jungen Frau, die am Leben scheitert.
Tatsächlich präsentiert er den Reichtum ihrer inneren Welt, in all ihrem Ungenügen und all ihrem Überschuss.


© Alle Fotos Irene Jost , von Francisco Paco Carrascosa, 2021
 

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