Meine Literaturempfehlungen 2016

# Zufälle

Im 2016 habe ich einiges gelesen, vieles war weder negativ noch positiv. Auch solche Jahre gibt es. Bis ich im Sommer auf den israelischen Romancier David Grossman stiess. Eine Entdeckung. Er bewegt sich formal im magischen Realismus und Surrealismus, erzählerisch experimentell. Es sind inhaltlich grosse Gesellschaftsromane, Liebes-, Familien- oder Entwicklungsgeschichten. Vor allem ist es israelische Literatur, eine Literatur in Zeiten des Krieges. Sie wird Instrument der Realitätsprüfung und Mittel des nationalen Bewusstseins. Ich habe mich durch Grossmans Bücher hindurchgelesen – diese 3 Werke haben alle einen sehr eigenen und kreativen Erzählstil, der unterschiedlicher nicht sein könnte.

Kommt ein Pferd in die Bar
David Grossman, Israel, 2016, 252 Seiten

Kann man Witze über den Holocaust machen? Ein Stand-up-Comedian – Dovele – spielt eine Nacht lang gegen sein Trauma an. Mit uns im Saal sitzt Richter Lazar, dem seine Menschlichkeit abhanden gekommen ist. Er hat seinen Jugendfreund Dovele verraten, vergessen und aus seinem Gedächtnis gestrichen. Dovele hat ihn zu ‹diesem› Abend eingeladen, mit der Bitte, genau hinzuschauen.

Als Leser stehen wir Dovele in dieser besonderen Nacht zur Seite. Der abgewrackte Comedian spielt auf den Nerven. Es ist eine Selbstentblössung und befremdliche Vorstellung für ein gemischtes Publikum, das sich auf Entspannung und Unterhaltung eingestellt hat, aber das als Geisel genommen wird. Gereiztheit und Aggressivität krachen auf der Bühne – mit Witzen und Sketchen gespickt. Seine Beichte spielt mit dem Voyeurismus des Publikums und des Lesers. Alles wird nackt serviert. Gibt es etwas Faszinierenderes als den Einblick in die Hölle eines andern?

Dovele erzählt vom Jugendcamp als er 13 Jahre alt ist, als ihm die Nachricht überbracht wird, dass in 4 Stunden die Beerdigung stattfindet. Nur geht vergessen, wer denn nun gestorben ist, seine Mutter oder sein Vater. Auf der Fahrt dahin ringt Dovele um Gerechtigkeit für beide – schliesslich kippt es in eine Abrechnung des Sohnes mit zwei verstörten Überlebenden der Shoah.

Ein Leseabenteuer – Timing, Tonlage, Dramaturgie,alles sitzt in dieser schwarzen Performance.

 

Eine Frau flieht vor einer Nachricht
David Grossman, Israel, 2008/2009, 700 Seiten

Die Geschichte von Ora und ihren beiden Lebensgefährten Ilan und Avram, von denen sie jeweils einen Sohn hat. Die drei lernen sich 1967 während des Sechstagekrieges als jugendliche Patienten in einer Quarantänestation kennen. Der gemeinsame Lebensweg wird im Rückblick vor allem aus Oras Sicht erzählt.

Als sich ihr jüngster Sohn Ofer freiwillig zu einem Militäreinsatz meldet, versucht sie die Kriegslogik zu durchbrechen: Sie verweigert die Mutterrolle und entzieht sich der Überbringung der befürchteten Todesnachricht, indem sie mit Avram zu einer mehrtägigen Wanderung durch die Gebirge Israels aufbricht.

Die Wanderung führt in doppeltem Sinn durch Israel – einerseits räumlich, andererseits aber auch durch die Zeitgeschichte, die beginnend mit dem Sechstagekrieg über den Jom-Kippur-Krieg bis zum Zeitpunkt der Erzählung führt. So wie sich überall am Wegesrand der Wanderung Zeichen und Denkmäler für die von militärischen Ereignissen geprägte Staatsgeschichte Israels finden, so finden sich in den Lebensgeschichten Oras, Avrams und Ilans immer wieder «Wegmarken», welche die grosse Politik, die Kriege und die alltägliche Bedrohung im Leben des Einzelnen hinterlassen. Ähnlich einer Wanderung versucht der Text sich in vielen Windungen und kleinen Schritten dem Leben der Protagonisten anzunähern. Detailreiche Beschreibungen und Beobachtungen entwerfen ein Psychogramm der Protagonisten, deren zerrissener und verworfener Lebenswegexemplarisch für die Geschichte und Situation Israels steht. Sowohl des jüdischen wie des arabischen Bevölkerungsteils. Der Text endet ohne eine eindeutige Perspektive für die Beteiligten, jede von ihnen getroffene Entscheidung führt zu Verletzungen bei anderen Beteiligten, «Glück» ist nicht erreichbar.

 

Stichwort: Liebe
David Grossman, Israel, 1991, 616 Seiten

Das Buch ist in 4 Geschichten aufgeteilt, in ständig wechselnden Perspektiven, überquellend in unglaublichen, absurden, aberwitzigen und todtraurigen Geschichten. Es ist ein philosophischer Roman um die Frage was Leben bedeutet, was Leben ist.

Schlomo Neuman nennen alle Momik. Er ist der Enkel von Grossvater Anschel, der umgebracht wurde von der Nazi-Bestie. Anschel steht aber 14 Jahre nach Kriegsende plötzlich vor der Tür, aus einer Irrenanstalt entlassen und murmelt ununterbrochen unverständliches Zeug. Die erste Geschichte des Romans erzählt aus der Perspektive von Momik, der als Kind in Jerusalem aufwächst. Umgeben von verrückten alten Leuten und verstörten Eltern, die aus dem ‹seltsamen Land dort› stammen. Er spioniert sie aus und trägt alles in sein Schulheft ein, das er Heimatkunde nennt. Im Keller versucht er heimlich die Nazi-Bestie zu züchten.

Der zweite Teil ist eine Auseinandersetzung des Schriftstellers Momik mit dem polnischen Dichter Bruno Schulz. Alltägliches und Phantastisches enden in eine Metamorphose. Momik will für sich den 1942 von den Nazis ermordeten Dichter retten. Er verwandelt ihn in einen Fisch. Einen Salm. Eine Meisterleistung.

In Teil 3 – wie in 1001 Nacht – versucht der Erzähler Anschel Wasserman alias Prinzessin Scheherazade, Nacht für Nacht aus der Nazi-Bestie, dem Obersturmbannführer Neigel, den Menschen zu locken. Handlungsort ist der Zoo von Warschau mit den «gealterten» Jugendhelden aus
Wassermans phantastischen Erzählungen «Kinder des Herzens». Hierher werden die verrückten Alten aus Momiks Strasse entführt. Die Tiere retten die Menschen, die Geschichte könnte aus dem alten Testament stammen.

Am Ende der Geschichte – in Teil 4 – wird eine wissenschaftliche Sammlung wie eine Enzyklopädie angelegt. Es sind die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben eines Menschen, alphabetisch geordnet, beginnend mit «Ahawa», «Liebe». In dieser Enzyklopädie hat er die Namen all der Verrückten, Gezeichneten, der «Kinder des Herzens», Partisanen, Lebenskünstler aufgenommen und erzählt beinahe «autobiografisch». Es ist die Geschichte eines Traums, eines Lebens.

 

Oblomow
Iwan Alexandrowitsch Gontscharow, Russland, ein Literatur-Klassiker 1859 (2012 neu übersetzt), 750 Seiten

Oblomow ist der Held der Untätigkeit. Er ist unentschieden, träge, faul und und pflegt seine Tagträume und Langeweile. Die Liegestatt ist sein bevorzugter Ort, der Schlafrock sein liebstes Kleidungsstück. Im Bett schmiedet er grosse Pläne, als ängstlicher Zauderer setzt er nichts um. Alles kann auch morgen erledigt werden. Er ist Gutsbesitzer über ein russisches Dorf mit 300 Leibeigenen mit regelmässigen Einkünften. Seit 12 Jahren lebt er in St. Petersburg und hat das Gut nicht mehr besucht. Ein lebensuntüchtiger Mensch, der schamlos ausgenutzt wird. Sein Jugendfreund, Kaufmann Stolz, ist die Ausnahme. Er schafft es, ihn aus seiner Lethargie herauszuziehen und ihn mit Olga bekannt zu machen. Ilija Oblomow überwindet sich und geniesst für kurze Zeit die Liebe, bevor er wieder in Selbstzweifel versinkt. Die Gefahren des Schicksals lassen ihn zu einem passiven Menschen werden. Jede Handlung hat Konsequenzen. Dem setzt Oblomow völlige Apathie entgegen, diese bannt das Böse; umgekehrt aber auch das Gute.

Schnörkellos geschrieben. Alle Protagonisten sind fein gezeichnete Geschöpfe, die lebendig werden in ihrer Charakterisierung. Der Roman hat hohe Aktualität, auch nach mehr als 150 Jahren. Unser Alltag ist geprägt von Hyperaktivismus, den wir auch gerne zeigen. Das Hetzen von Termin zu Termin. Langeweile und Unentschlossenheit sind keine Tugenden. «Die Oblomowerei» setzt einen Gegenpol zum hektischen Alltagsleben. Nach Don Quijote ist Oblomow der zweite grosse Antiheld der Literaturgeschichte. Ein Schlüsseltext der russischen Psyche.

Ich habe Oblomow bereits zweimal gelesen innert 4 Jahren, an diesem lebendigen Buch gefällt mir alles, insbesondere die grosse Intelligenz und Komik. Viele Leser fühlen sich von der Schlaraffenlandutopie herausgefordert.

 

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