Meine Literaturempfehlungen 2019

# Zufälle

Irene Jost. Meine Literaturempfehlungen 2019. 11 aufregende Bücher.11 Bücher, von: Thomas Hürlimann, Jennifer Clement, Albertine Sarrazin, Aura Xilonen, Per Petterson, Javier Marías, János Székely, Francisco Paco Carrascosa.
11 aufregende Bücher von urwüchsiger Schönheit und unkonventioneller Erzählweise. Reiseabenteuer im Kopf. Einige Bücher sind wie Balladen, tief funkelnd und wild. Eine Hommage an Aussenseiter und die Poesie des Lesens und Schauens im Alltag. Albertine Sarrazin: „Vergiss nie, die Stille zu kaufen.“

 

Heimkehr
Thomas Hürlimann, Schweiz, 2018, 522 Seiten

In einer eisigen Nacht im hohen Alpental schiesst Heinrich Übel Junior mit einem ausgeleierten Chevy in die Strassenschranken auf seiner Heimkehr nach 20 Jahren zu seinem Vater, dem Gummistier. In Pollazzu, an der Südküste von Sizilien, erwacht er als Dutturi im Hotel Villa Vittori. Hier begegnen ihm alle mit grossem Respekt und Ehrerbietung. Er, der früher ein unglücklicher Pannenproduzent war, ist plötzlich ein Held und Frauenschwarm. Er ist ein anderer geworden. Eine wüste Narbe ziert seinen kahlen Schädel. «Auch ich habe es gewagt, mich dem Tod frontal zu stellen. Wir Männer tragen unsere Male im Gesicht», erklärt ihm der Mafiaboss Don Pasquale. Wer ist er? Was ist passiert? Wie ist er nach Sizilien gekommen? Er weiss, dass er Heinrich Übel Junior ist. Aber ist er es noch? «Auf Sizilien hat Empedokles den Seelenwandel verkündet, Platon die Wirklichkeit der Ideen gelehrt, Goethe die Urpflanze gesucht, Pirandello Komödien geschrieben», sagt Übel Junior. Ist das Leben ein Traum oder eine (Ver-)Blendung? In einer Nacht lernt Dutturi alias Übel Junior die Liebe kennen: «Die! Keine andere. Sie ist es.» Er reist seiner Venus nach. Seine rasante Odyssee führt ihn von Sizilien nach Malta und dann auf den Kontinent Afrika. Fiebernd mit Malariaschüben landet er in Zürich und begibt sich erneut in die Kreise der «Salonlöwen der Zürcher TV-, Kunst- und Psychoszene». Die Spur seiner Schönen führt ihn in die DDR vor dem Mauerfall. Zwei weitere Male setzt er zur Heimkehr zum Vater an. Auf einem Plakat tritt ihm der Gummifabrikant Dr. Heinrich Übel Senior als Weihnachtsmann entgegen: «Tut es. Mit einem Verhüterli.» Heinrich Junior wird immer wieder von einem Satz des Vaters gepeinigt, mit dem er ihn vor die Tür gesetzt hat: «Mein lieber Abfall, du bist weit vom Stamm gefallen!». Auch diese Szene ist seinem Bewusstsein entglitten. In Zürich hat Übel Junior 40 Gastsemester an der Uni studiert ohne den verlangten Doktortitel abzuschliessen. Mit seiner Remington Schreibmaschine schafft er einen alphabetisch geordneten «Papierpalast», den Katalog seines Lebens, den er dem Vater in der verhängnisvollen Unfallnacht übergab. Das väterliche Erfolgsprinzip lag dem melancholischen Junior nicht: «Nicht mit sich selber diskutieren, mit sich selber diskutieren macht schwach, zupacken, handeln!» Der Kater Dada steht dem Junior zur Seite, immer wieder, und übernimmt die letzte Autofahrt zurück ins Leben.

Grossartiger Schelmenroman, literarisch beeindruckend erzählt mit mitreissenden Bilderfluten und Bewussseinszuständen. Grotesk witzig. Ein Sog von der ersten Seite an, mit vielen Überraschungen, das macht grossen Spass. Daneben sehr klug: Projektionen von anderen auf einen selbst sagen nie etwas über den eigenen Wesenskern aus, sondern immer nur etwas über den der anderen. Es geht auch um die grossen Themen Tod und Auferstehung. Die Heimkehr des verlorenen Sohns. «Nicht die Fremde war fremd, fremd war die Heimat, die man draussen für immer verlor. Das hatten schon Odysseus, Robinson und all die anderen, die eines Tages zurückgekehrt waren, bitter erfahren müssen. On ne revient jamais. Man blieb draussen. Für immer.»

Ebenfalls empfehlenswert: Vierzig Rosen. Der grosse Kater. Fräulein Stark. Das Gartenhaus.

 

Gun Love
Jennifer Clement, USA/Mexiko, 2018, 252 Seiten

«Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen. / Sie kannte alle Liebeslieder, die ganze Universität der Liebe.» Mit diesen Worten beginnt das bildgewaltige Buch der Ausgestossenen: Frauen, die als Teenager Mütter wurden; traumatisierte Kriegsveteranen; Mexikaner, die mit Waffen handeln; Pastor Rex; Mister-komm-nicht-zurück etc. Es sind poetische Songtexte, die sich zu Balladen füllen. Die Hauptprotagonistin ist das Mädchen Pearl, aus ihrer Sicht erleben wir hautnah das Ineinanderfallen von Liebe und Gewalt, von Schönheit und Hässlichkeit, von Magie und Träumen, immer mit dem passenden Song unterlegt. Die 14-jährige Pearl lebt mit ihrer Mutter in Florida inmitten eines Trailerparks in einem alten Mercury-Wagen, unweit eines Flusses mit Alligatoren und mit dem Duft der Müllkippe der Stadt in der Nase. Aus zwei Monaten werden es 14 Jahre. Sozialrealismus.

Die Mutter hat die ausserordentliche Fähigkeit, Objekte und Menschen mit Mitgefühl wahrzunehmen: «Meine Mutter konnte in Menschen hineinsehen und zerbrochenes Glas sehen. Sie sah die Scherben und die Flaschen voller Tränen.» Mutter und Tochter bilden eine Einheit, sie bringt Pearl bei, dass Träume und Lieder das wichtigste im Leben sind. Ein Mann mit Gewehr taucht bei ihnen auf, eine Brise, die zum Hurrikan über dem Atlantik wird. Die Einsamkeit von Pearl blökt. Schüsse knallen in die Luft und treffen Engel, hallen in der Nacht, treten in die Motorhaube ein oder erledigen Alligatoren-babies. Irgendwer hat immer den Finger am Abzug. Dinge bekommen schnell eine Kugel verpasst, einfach nur so. «Als die Regentropfen auf das Wagenfenster spritzten, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Sie erfüllte mich wie ein Lied. Sie sagte, wenn ein kleines Mädchen seine Mutter verliert, weil seine Mutter zur Zielscheibe eines Fremden wird, fällt selbst der Regen mit Würde.» Die Landung ist hart …

Eine gefährliche Liebe: In den USA ist Waffenbesitz ein Grundrecht, das in der Verfassung steht. Ein ungewöhnliches Buch, in den Worten von Pearl und ihrer Mutter: «es wühlt auf wie ein Milchshake und die Perlen um meinen Hals beweinen das Meer.»

 

Teich
Claire-Louise Bennett, Grossbritanien, 2018, 217 Seiten (Debüt 2016)

Die Imagination und Sprache ist umwerfend. Der Alltag einer jungen Frau, die in einem einsamen Cottage an Irlands Westküste allein lebt. Sie wählt einen einfachen Lebensstil und erzählt von ihrem Tag. Was sie isst, über ihr Verhältnis zu den Nachbarn, was sie einkauft, kocht, das Wetter und die Natur, über das Cottage oder wenn sie bügelt. Die Assoziationen machen aus den Banalitäten eine Sensation. Ein Fluss entsteht. Sie hat diesen Ort gewählt, als Pause und bewusst freies Alleinsein und macht einen brutalen Bruch mit allem. Es sind Momente, Kurzgeschichten, Tagebuchnotizen ohne Plot, ohne Chronologie, wie Gedichte. Details werden zu 20 Kapiteln und jedes leuchtet. Erkenntnisse, nüchterne Feststellungen, starke Bilder, erlebbar als neuer Duft in Worten. Kein Gestern, ein Jetzt. Eindruck und Ausdruck in unvergleichlicher Übertragung und Unberechenbarkeit. Ein Frühlingsputz, der den Alltag im und ums Cottage im Kleinen gross, irritierend und exotisch macht. Ironisch, überraschend, klug, hinreissende Ideen, waghalsig und frech, die Prosa, alles hat mich umgehauen. «Habe eben mein Abendessen in den Müll geworfen. Ich wusste schon während des Kochens, dass ich das tun würde, deswegen habe ich alles hineingerührt, was ich nicht mehr sehen will.»

 

Albertine Sarrazin hat zwei Bücher im Gefängnis (Debüt «Astragalus», «Ausbruch»/2) und eines in Freiheit («Querwege»/3) geschrieben und wurde 29 Jahre alt. Alle drei sind Offenbarungen. Ich empfehle folgende Lesereihenfolge: Ausbruch, Querwege, Astragalus.

Der Ausbruch
Albertine Sarrazin, Frankreich, Ink Press 2016 (1970), 525 Seiten

«Ich bin bestens ausstaffiert, um heute Abend im Knast zu landen: Opossum und Hose.» Mit diesem leckeren ersten Satz beginnt ein atemberaubender Gefängnis-Roman. Die lyrische Sprache von Albertine Sarrazin ist wie Musik, starke Song-Texte. Ein Schwanken zwischen Selbstaufgabe und Übermut. Als scharfsinnige und flüchtige Aussenseiterin erzählt sie in unzähligen Facetten den Ausbruch, ein Panoptikum der physischen und literarischen Fluchten entsteht, um wieder in die Welt zu gelangen. Nes (Nescafé ) und Fluppen (Kippen) sind ein Lebensmotor und tragen durch das Warten und die grossen Betrachtungen in allen Grau-Schattierungen. Absichten werden mal offengelegt oder intelligent verborgen. «Kassiber» sind vielfache Text-Selbstverschlüsselungen und die wahren Ausbrüche. Sarazzin ist eine scharfe Beobachterin, schreibt autobiografisch, über die Aussenwelt ihrer Innenwelt. Sie verachtet das bürgerliche Leben: «Ich bin Diebin gewesen, ich will Schriftstellerin werden: jede andere Tätigkeit ist für mich ungeniessbar.» Tief funkelnd, voller Lebenslust, sensibel, frivol, heiter, subversiv. Eine poetische Slang-Sprache, die einfach im Mund zerfliesst und im Gaumen haften bleibt. Eine grossartige Entdeckung. Die deutsche Neuübersetzung von Claudia Steinitz ist genial. Textauszüge: «Ich träume, während ich am Bic kaue. Warum nicht die Träume auf der Speisekarte auswählen oder sich einfach mit einer Schüssel Nichts davonträumeln. / Er will aufsteigen, dafür gehorcht er: ein kleiner Fisch zwischen zwei Scheiben Verstand, wackeres Sandwich! / Oh, diese Tage! Sie türmen sich, Tage ohne Inhalt, die ich in eine Mülltonne ohne Erinnerung werfe. / In meiner Zelle räume ich Besuchszeit, leichte Sorgen und schwere Gedanken schnell in die Vorratsecke für die Abende; wenn das Licht aus ist, habe ich Zeit, sie wieder hervorzu-holen. / Das Jesuskind in Samthöschen wird in unsere kleinen Mägen herabsteigen. / Gnadengesuch stellen: O nein! Ich habe genug davon gestellt, als ich noch dachte, das funktioniere wie ein Automat. Ich bekam meine Münze zurück, das schon, aber nie etwas zu naschen.»

Querwege
Albertine Sarrazin, Frankreich, Ink Press, 2019, (1970), 224 Seiten

Wenn das Gefängnis draussen stärker wird als drinnen. «Querwege» ist Metapher, Motto und Erfindergeist. Albe erzählt, wie sie das Jahr in Freiheit übersteht ohne rückfällig zu werden, während sie auf die Entlassung ihrer grossen Liebe Lou wartet. Arbeiten ist für sie keine Option. Als Klein-kriminelle bereut sie keine Tat. Sie denkt über das Leben und über sich selbst nach und schreibt authentisch stark. «Mit Vollgas rase ich zur Dorfpost. Mein Kopf ist voller Zikaden, die Adern voller Ameisen, ich bin irgendwie ziemlich zerwühlt … aus dem Häuschen, sagen sie hier. Jetzt werden wir uns also durch Stimme und Ohr begegnen, zusammenkrachen, die Literatur und ich.»

Astragalus
Albertine Sarrazin, Frankreich, 2013, (Debüt 1965), 240 Seiten

Mit 19 gelingt die Flucht. Mit dem Sprung von der Gefängnismauer bricht Anne sich den Astragalus und schleppt sich schwer verletzt auf die Strasse vor die Füsse von Julien. «Der Aufprall hat wohl die Steine zerschmettert.» Er rettet sie bedingungslos. Zwei Menschen erkennen sich, in ihrem Drang nach Freiheit; zugleich sind sie existenziell angewiesen auf die Nähe und den Halt des anderen. Eine Odyssee beginnt: Schwerverletzt wird Anne von Julien bei Freunden versteckt. Erst in einem geschlossenen Gasthaus, später in der beengten Zweizimmerwohnung einer ehemaligen Prostituierten mit Kind. Julien bezahlt dafür, für Spital und OP, fürs Schweigen. Er arbeitet als Kleinkrimineller und taucht immer wieder ab. Im Gefängnis dieser Zwangsgemeinschaft und ihrer selbst beginnt Anne als Prostituierte und Kleinkriminelle zu arbeiten und befreit sich. Sie riskiert, jederzeit von den Bullen gefasst zu werden. Die Abgründe sind vielschichtig. Anne ist verletzlich, grob und sanft und sehr eigensinnig. Eine Liebes- und Kriminalgeschichte in atemberaubender Lyrik.

 

Gringo Champ
Aura Xilonen, Mexiko, 2019, (Debüt 2015), 335 Seiten

Ein Sprachfest: Mackerfacker, Mickerficker, Fipse, Chica und der Drecksmex Liberio als Hauptprotagonist. Der Teenager Liberio ist geflüchtet aus Mexiko in eine Grenzstadt der USA und in einem Buchladen gestrandet, der zerlegt wird und ihn arbeits- und obdachlos macht. Zuvor hat er sich das Lesen beigebracht mit einer Enzyklopädie und alles gelesen, was ihm in die Hände kam. «Als ich begonnen hatte, Büchlein zu lesen, die keine Bilder mehr enthielten, fand ich Gefallen an den Gedanken der Leute, die da drinnen lebten, zusammengepresst zwischen den Seiten, ohne dass sie den Mund öffnen mussten. Man war da wie ein fokkin Spanner, der alles sah, was in ihrem Inneren geschah.» Liberio erkennt: Das Leben in den Büchern ist ein anderes als das Leben, das er kennt. Nach der Book (Buchladen) verdingt er sich heimat- und brotlos als Futter für Boxergrössen. Die Wut ist gross und Liberio ist zäh. Er schafft es zum Profikämpfer. In Rückblenden erfahren wir seine Fluchtgeschichte und hören über sein früheres Leben. Grossartige Schauplätze wechseln sich ab, Realitäten und Vernebelungen geben sich die Hand. Eine zärtliche Liebesgeschichte entspannt sich. Der Plot und die erzählerische Fantasie sind nicht das massgebende an diesem Buch. Es ist diese neue und wilde Sprache, Hiebe in archaischem Gassenslang auf Mexikanisch-Englisch in grossartiger Deutschübertragung, verbunden mit literarischer Hochsprache, biblischen Gleichnissen, erfundenen Wörter und viel Vokabular aus einer vergangenen Zeit. Ein ganz eigener Sprach-Cocktail, der bis am Ende nicht ermüdet. Zu Beginn des Buches musste ich reinkommen in diese ganz eigene Sprachwelt. Die Belohnung ist ein neues Spracherlebnis von kerniger Schönheit – mit Worten, die wie Fäuste sind.

 

Männer in meiner Lage
Per Petterson, Norwegen, 2019, 285 Seiten

Bittersüss ist diese seelische Kernschmelze, die ihren Sog in einer lakonischen Prosa-Erzählweise entfaltet. Es spielt in Oslo. Der Romanheld Arvid Jansen hat 2 Brüder verloren. Den jüngeren Bruder und die Eltern bei einer Schiffsbrandkatastrophe vor einem Jahr. Ein Jahr später verlässt ihn seine Frau nach 15 Jahren Ehe, ohne Erklärung, es kommt zur Scheidung. Sie wendet sich den «Farben-frohen» zu, eine Community oder Sekte, das bleibt offen. Das Sorgerecht für die drei kleinen Töchter hat seine Frau Turid. Die Mädels entgleiten ihm zusehends. Alles führt nach unten: als Mann und als Vater. Im Zentrum stehen die Konflikte und der existenzielle Schmerz dieses Mannes. Eine tiefe Melancholie, ein düsteres Grübeln und eine schreiende Einsamkeit. Er wütet in sich und um sich, Schuld und Enttäuschung, Ohnmacht und Hass. Er stirbt alle sozialen Tode. Viele Episoden zeigen lang-sam und mit Rückblicken, was zu dieser Erschütterung führte. Arvid findet einen Abschiedsbrief, den seine Frau wegen des Schiffsunglücks nie abgeschickt hatte: Da schreibt sie, dass sie sich entliebt hat, in ihrem Dasein unglücklich ist und ihn deshalb verlässt. Sie wollte ihn bereits vor einem Jahr verlassen! Arvid grübelt und grübelt. Vieles bleibt offen und vage und wir erfahren nie, wie es dazu kam. Das ist auch nicht wichtig. Die Gedankenwelt von Arvid in seinem Verlust und Schmerz ist zentral. Arvid hat ein grosses Gespür für Menschen. Daneben verstrickt er sich und irrt herum. Er bewahrt sich seine Sehnsucht. Einmal sagt er, dass seine «einzigen vertrauten Freunde» seine Bücher sind: «Jeder Rücken eine Tür, die sich zu einem Leben öffnete, das nicht meins war, es vielleicht aber hätte sein können und es irgendwie doch war, denn ich hatte sie alle aneiner Boje in meinem Herzen vertäut, jedes einzelne. Wer wäre ich ohne sie.» Der Mann trauert. Er erkennt rechtzeitig, dass seine älteste Tochter sehr viel mehr gelitten hat in dieser unmöglichen Lebenssituation, Aufhetze und der gesalzenen Moral. Die 16-Jährige geht fast zu Grunde. Arvid kommt zu sich. Das Erkunden dieser männlichen Existenz, dieses «Ausser-sich-Seins» und ihrer Nachtseiten ist ganz grosse Kunst.

 

Berta Isla
Javier Marías, Spanien, 2019 (2017/ES), 654 Seiten

Es ist kein Agentenroman, das ist die Tarnung. Es geht um das Doppelleben und die Geschichte einer grossen Liebe. Die zentrale Frage: Kennt man den, den man liebt? Meisterhaft werden die Facetten der komplexen, diffusen und widersprüchlichen Gefühlslagen psychologisch-literarisch ausgelotet. Es geht um Leerstellen und Lügen; von der ersten Begegnung bis zur Abrechnung. Schon bald ahnt Berta Isla, dass sie mit «einem Gefangenen ohne Fluchtmöglichkeit» verheiratet ist. Immer wieder tauchen Verse des Dichters T. S. Eliot auf, die Tomás zitiert, als verschlüsselte Botschaf-ten an Berta Isla, die sie jedoch nicht immer zu deuten weiss: «In der entstellten Strasse verliess er mich, mit einem Abschiedsgruss, war fort, als das Signalhorn klang (T. S. Eliot, aus «Little Gidding»). Hier stellt sich Berta Isla die wiederkehrende Frage, kommt er wieder? Tomás und Berta messen sich rhetorisch und intellektuell nach Kräften: Sie erkennen und kennen einander, eine starke Verbindung. Javier Marías schreibt grandios. Textauszüge: «Das reglose Foto schiebt sich über das wirkliche Gesicht, mit all seinen Mienen und Regungen, die Gesichtszüge erstarren und es existieren nur noch die der Momentaufnahme, die vor lauter Betrachten den Menschen ersetzt, ihn auslöscht, verbannt oder verstösst; deshalb ist es so schwer, sich wirklich an die Toten zu erinnern, die sich von uns entfernen.» / «Aber wir alle wissen, was man lustlos, sogar widerwillig beginnt, kann uns am Ende durch die Macht der Gewohnheit, den unverhofften Drang der Wiederholung verführen.» / «Alles, was man uns sagt, kann sein oder nicht sein, das Entscheidenste und das Gleichgültigste, das Belangloseste und das Wesentlichste, was unsere Existenz berührt und was sie nicht einmal streift. Wir können in fortwährendem Irrtum leben, unser Leben für verständlich, solide, greifbar halten und auf einmal fest-stellen, dass alles unsicher, sumpfig, unlenkbar ist, nicht fest im Boden verankert; oder eine Aufführung, als wären wir im Theater und hielten es für die Wirklichkeit.» Ein grosses Buch. Eindrücklich.

Weitere starke Bücher, mit unvergleichlichen Stimmungen, die wie ein Duft hängen bleiben: Morgen in der Schlacht, denk an mich. Mein Herz so weiss. Dein Gesicht morgen. Die sterblich Verliebten.

 

Verlockung
János Székely, (1901–1958), Ungarn, 1959, 979 Seiten, ein Literatur-Klassiker

Béla ist der Held und Ich-Erzähler. Ein Kämpfer. Es spielt in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Das ungarische Proletariat leidet und die Kriegsgewinner geniessen ihren Reichtum mit Dekadenz. In seiner Kindheit, getrennt von seiner Mutter, hat der uneheliche Bauernjunge ein hartes Leben in einem tristen Dorf. Der Junge hungert, schläft auf dem Stroh und für sein Essen muss er arbeiten. Er wohnt in einer verwahrlosten Pension für uneheliche Kinder von Dienstmädchen bei einer ausgemusterten Prostituierten. Sie ist eine Hexe. Seine Mutter bezahlt dafür, besucht ihn nie. Er darf nicht in die Schule. Der clevere Junge setzt sich durch und kann die Schule besuchen. Ein sozialistischer Lehrer prägt die Kinder mit freiem Denken und Rechten. Schon früh beginnt er zu schreiben. Begabt und lernbegierig folgt er mit 14 Jahren der Mutter nach Budapest. Die Mutter ist arm und arbeitet als Wäscherin. Béla will dieser Enge und Armut in ihrer ganzen stinkenden Modrigkeit um jeden Preis entfliehen. Er findet Arbeit im luxuriösen Grandhotel und wird nach einigen Hürden erst Liftboy und dann Page. Dadurch kommt er in Kontakt mit den Schönen und Reichen und erhält Trinkgeld, je nach Grad der Serviceleistung. Er beobachtet diese neue Welt voller Macht und Intrigen, ist fasziniert und abgestossen zugleich. Immer hochanständig und intelligent. Zu anständig, ohne Bauernschläue. Eine glamouröse und sehr elegante Frau – «Ihre Exzellenz» – verlangt Liebesdienste der besonderen Art. Sie bestimmt die Regeln und mag Vergewaltigungsphantasien. Als Lohn darf sich der Page im Portemonnaie frei bedienen. Unerfahren, überfordert und verliebt verfällt er der exzentrischen Frau. Sie spielt mit ihm. Er will ihr Geld nicht, er will Liebe. Am Ende geht er in beidem leer aus. Das besondere an diesem Abenteuerroman ist die erzählerische Kraft – filmisch und bildstark –; die spannende Geschichte, die lebendigen Figuren und die raffinierte Dramaturgie. Ein Meisterwerk.

Meine Literaturempfehlungen 2019: Verlockung, János Székely

 

‘Black & White’ with Friends
Francisco Paco Carrascosa, Spanien/Schweiz, 2019, eine fotografische Erzählung in 3696 Bildern

«Wenn der Alltag zur Animal-Farm wird»: Was ist Natur heute und wo suchen wir sie? Francisco Paco Carrascosa folgt in den Fotografien dieser sieben Bücher zu je 528 Seiten den Tieren und ihren Spuren in der Welt der Menschen. Er findet Schosshunde und Gämsen, Bambimotive und Tigerprints, und immer wieder – Spatzen. Spatzen kehren wieder, so wie der Chor im griechischen Theater das Dramengeschehen begleitet, und führen den Betrachter durch Geschichten, die im Nichts beginnen und im Irgendwo enden, das Leben selbst. Paco folgt seiner Schaulust, Urs Stahel schreibt: «Paco’s Blick ist so aussergewöhnlich, weil er das Gewöhnliche aus einer neuen Perspektive zeigt, als würde er einen Kuchen waagrecht und nicht senkrecht anschneiden.» / «Ein Sehen, das wie Riechen anmutet, das den Instinkten und Objekten folgt, um über sie die Welt zu erfahren.»


→ Website ‘Black & White’ with Friends

 

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