Fantoche 2017 – meine Darlings #2

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«Have a nice day» von Liu Jian – Langfilm
Ein beachtenswerter Independent-Noir-Film aus China, eine Seltenheit. Innerhalb von 3 Jahren hat Liu Jian diesen Low-Budget-Feature-Film in seinem mobilen und kompakten Studio – dem Laptop – im Alleingang fertiggestellt. Liu Jian pflegt einen reduzierten Zeichenstil, fast wie ein Comic, man spürt seine Herkunft als Landschaftsmaler. Sein Augenmerk liegt in der Umgebung und den Stadtansichten: Viele präzise Details. Der reduzierte Realismus in den Bildwelten vermittelt fast körperlich die triste Stimmung in dieser südchinesischen Industriestadt, die sich auf die Protagonisten überträgt. Die Gestalten wirken sonderbar verloren und pendeln zwischen Stillstand und Aufbruch. Mit wenigen Einzelheiten sind die Gesichter gezeichnet. Eine gefüllte Tasche mit Geld ist Hauptdarstellerin in dieser Gaunerkomödie. Am Ende erhaschen wir einen Blick auf die Banknoten, uns blitzt das Gesicht von Mao Zedong entgegen. Der Titel – Have a nice day – ist sarkastisch zu verstehen. Eine Figur ruft höhnisch lachend aus: «Freiheit?» «Es gibt 3 Milieus von Freiheiten: Die des Bauernmaktes, dort kauft man, was es gerade gibt; dann die des Supermarktes, dort hat man die freie Auswahl und die Sphäre des Online-Shoppings.» Glasklar was da gemeint ist. Eine Werbesequenz mit den typischen groben Druckrasterpunkten des Siebdruckes taucht auf, chinesische Schriftzeichen an den Wänden, kaputte Lampen, Lichterketten. Smartphonebildschirme und die gigantischen Neonschriftzüge und Werbereklamen sorgen für eine traumartige Überhöhung der öden Stadt. Müllhaufen, Geröllberge, Garküchen und blasses Licht. Alles grau, Häuser und Himmel. Die Götter des Kapitalismus und der Religion tauchen auf in Form von Trumps plärrender Stimme aus einem Autoradio, oder als Zitate von Steve Jobs und Zuckerberg werden eingestreut. Vielschichtige Themen, absurde Ereignisse, eine ernsthafte und brutale Geschichte.


Video, Bild: © «Have a nice day», 77′, E/d, 2017, CN, Liu Jian, 2D-Computeranimation
 

«Revengeance» von Bill Plympton, Jim Lujan – Langfilm
Ein irrer Roadtrip, fette Rockmusik, gekonnte Retro mit primitiven Zeichnungen und ein unglaublicher Schluss. Eine grobe Action-Thriller-Komödie der beiden Independent-Regisseure Bill Plympton und Jim Lujan ist grotesk – ein seltenes Vergnügen. Plympton zeichnet alles mit Bleistift auf Papier und animiert es, später wird es digital überarbeitet und koloriert. Jim Lujan schreibt die skurrile Geschichte, komponiert die Musik, die zu den Höhepunkten im Film zählt, und spricht einige Figuren eigenhändig ein, sehr cool. Alles Low Budget. Jörg Gottschling bringt es auf den Punkt: «Revengeance ist ein frecher, vulgärer Film. Ein Rockstar unter den Animationsfilmen. Und definitiv ist er ein Film nur für Erwachsene, der nicht nur aneckt, sondern bewusst darauf abzielt, manche Gesellschaftsschichten anzugreifen, blosszustellen und der in seinem makabren Spass dabei auch kein Blatt vor den Mund nimmt.»


Video, Bild: © «Revengeance», 75′, E, 2017, USA, Bill Plympton, Jim Lujan, 2D-/3D-Computeranimation
 

«1917 – Der wahre Oktober» von Katrin Rothe – Langfilm, Dok
Im Zentrum stehen 5 Künstler. Sie schildern ihre Sicht der russischen Revolution von 1917 in St. Petersburg. Von den Aufständen im Februar, die den Zaren verdrängen, bis zur Machtübernahme der Bolschewisten im Oktober. Die Rolle Lenins und der Trotzkisten. Woran lag es, dass keine bürgerlich-parlamentarische Demokratie gebildet wurde? Die Weltkriegsmacht rückt näher, die Menschen hungern, bangen und wüten. Wie erleben die Bewohner die Ereignisse zwischen Salon und Aufstand? Die Denker, Dichter, Avantgardisten fürchten die Zerstörung der Kunst und Kreativität durch die Revolution. Die erträumte Freiheit für die Erneuerung der Kultur und die Bewahrung des kulturellen Erbes bleibt eine Illusion. Es erzählen Sinaida Hippius, Lyrikerin, Alexander Benois, Maler und Kritiker; Maxim Gorki, Schriftsteller; Kasimir Malewitsch, Soldat mit körnigen Manifesten; Wladimir Majakowski, Dichter. Jeder der Künstler nimmt anders wahr, was geschieht: Entsprechend wird die Geschichte aus der Sicht dieser biografischen und individuellen Reflexionen und Werke erzählt. Im Kontext von Alltag, Politik, der Ereignisse und dem persönlichen Schicksal. Kann Kunst demokratisch sein? Ist künstlerische Autonomie möglich? Auch dieser Diskurs schwingt mit. Dokumentarfilm in Legetechnik: Scherenschnitte, Siebdruck, 3D-Collagen aus Luftpolsterfolie, Kunstpelz, Schnüren etc., kolorierte Tableaus, feine Strichzeichnungen und historische Schwarz-Weiss-Filmaufnahmen. Viel Rot und Schwarz. Basierend auf einer aufwändigen Recherche der Regisseurin Katrin Rothe. Katrin Rothe ist ein dokumentarischer Rückblick gelungen, der eine kunstvolle Neuerzählung anhand der Künstlerbiografien ermöglicht in einer experimentellen Farb- und Formensprache der damaligen russischen Avantgardisten.


Video, Bilder: © «1917 – Der wahre Oktober», 90′, D/e, 2016, CH/DE, Katrin Rothe, Mischtechnik
 

«Louise en Hiver» von Jean-François Laguionie – Langfilm
Der Sommer ist zu Ende. Der letzte Zug verlässt die Station. Die Stadt ist menschenleer. Nur Louise ist noch da, eine alte Dame, die den letzten Zug verpasst hat. Wie Robinson Crusoe richtet sich die alte Dame in dem verlassenen Ort ein … Eine poetische Erzählung über das Älterwerden, über Träume und Selbstfindung. Die Kulissen der rauhen Klippen von Billigen-sur-Mer, einem französischen Küstendorf, sind von Laguionie mit Pinsel auf grobkörniges Papier gemalt. Souvenirs aus der Kindheit inspirierten den Regisseur zu diesem intimen Film. Fragilität, Melancholie, Nostalgie, Imagination schwingen mit. Grandiose Stimme.

Video: © «Louise en Hiver», FR/CA, 2012, 75′, Jean-François Laguionie, 2D-/3D-Computeranimation

Video: Interview mit Jean-François Laguionie über seinen Film «Louise en Hiver»

 

«Die Hälfte der Stadt» von Pavel Siczek – Langfilm, Dok
Chaim Bermann (*1890) ist polnischer Jude, Dorffotograf und Dorfpolitiker im polnischen Kozienice. Er porträtiert die polnischen, russischen und deutschen Bewohner während vieler Jahre und glaubt an das friedliche Miteinander. 1930 wendet sich das politische Klima gegen Chaim. Freunde werden Feinde. Er flieht nicht und setzt sich vermittelnd zwischen Kulturen und Religionen ein, ein moderner Mensch. Das wird ihm zum Verhängnis und er erlebt die jüdische Deportation, das Leben im Untergrund, die Massenflucht bis zur Auslöschung der Hälfte der Stadt und seiner Ermordung durch die Nazis. Der Regisseur und Dokumentarfilmer Pawel Siczek entdeckt nach fast hundert Jahren die 10’000 Glasnegative von Chaim Bergmann. Er beginnt die Geschichte zu rekonstruieren aufgrund dieser berührenden Porträts, interviewt frühere Nachbarn, ein junges Fotografenpaar sucht Spuren vor Ort. Der Regisseur erzählt persönlich und leise: In kunstvoll animierten Rückblenden auf den Holocaust schafft Siczek einen eindrücklichen Dokumentarfilm. Die handgemalten Zeichnungen – im naiven bäurischen Stil der Kozienice Region – erzählen vom bunten Leben aus dieser Zeit. Es bleiben die Gesichter einer für immer verlorenen europäischen Ära.


Video, Bild: © «Die Hälfte der Stadt», 88′, D/e, 2015, DE, Pavel Siczek, Anidok-Hybrid mit Live-Action (2D-Computer-Cutout)
 

Fantoche 2017 – Kurzfilmdarlings aus dem Internationalen Wettbewerb
Jeder Film im internationalen Wettbewerbsblock 1 überzeugt. Bei allen andern internationalen Wettbewerbsblöcken (2–4) stechen einzelne Werke hervor. Meine Vorlieben liegen im Experimentellen. «The Full Story» und «Ugly» sind für mich die beiden Stars 2017, beide aussergewöhnlich künstlerisch, starkes Storytelling, beeindruckende Machart:



Bilder: © «Ugly, Nikita Diakur», DE, 2017, 11′54′ → Video

Internationaler Wettbewerb 1:
«The Full Story», Daisy Jacobs, Chris Wilder, GB, 2017, 7′30′′ → Video
«Ugly, Nikita Diakur», DE, 2017, 11′54′ → Video
«Airport», Michaela Müller, CH/HR, 2017, 10′35′′ → Video
«Penelope», Heta Jäälinoja, FI/EE, 2016, 4′8′′ → Video
«Nachtstück», Anne Breymann, DE, 2016, 5′19′′ → Video
«Hot Dog Hands», Matt Reynolds, US, 2016, 6′40′′ Sekunden → Video
«Lupus», Carlos Gomez Salamanca, CO/FR, 2016, 10′ → Video
«Sore Eyes for Infinity», Elli Vuorinen, FI, 2016, 11′30′′ → Video

Ein bahnbrechender Soloflug von Amy Johnson als erste Frau, von England nach Australien, im Jahr 1930. Als Hommage – an ihren Erstflug als Frau und ihr früheres Leben als Tippse in einer Anwaltskanzlei – wird der Film mit einer Underwood 315 Schreibmaschine geschaffen. | Trauma eines Kindes, dessen Dämonen und Alpträume real surreal werden, mit einer überschäumenden Vorstellungskraft.
«G-AAAH», Elizabeth Hobbs, GB, 2016, 1′20′′ → Video
«Vilaine fille, Ayce Kartal», FR, 2017, 8′ → Video

Sinnestäuschungen führen zu einer surrealen Reise oder einem Traum – mit Ei. | Eine Gesellschaft, die aus dem Konzept gekommen ist; im Chaos gibt es überraschende Momente in der Luft. | Mit 33 endlich die Welt entdecken: Auf und davon, weg von Mutter!
«Impossible Figures and Other Stories II», Marta Pajek, PL, 2016, 15′ → Video
«I don’t feel Anything Anymore», Noémie Marsily, Carl Roosens, CA, 2016, 9′31′′ → Video

Wir erfahren, wie ein Koffer am besten gepackt wird und wie sich Vaterliebe in einem Wort ausdrückt. | Die Apokalypse der Alltagssorgen, in mitreissenden Dialogen, als Musical. | Eine abstrakte Hypothese über die Formung der Berge.
«Orgonesis», Boris Labbé, FR, 2016», 7′52′′ → Video
«Negative Space», Max Porter, Ru Kuwahata, FR, 2017, 5′30′′ → Video
«Burden», Niki Lindroth von Bahr, SE, 2017, 14′15′′ → Video
 

Ausserdem Dies & Das
Bildcodes und ihre Variationen: Ein Data-Bending-Experiment. Bilder verwandeln sich in Ton- und Textdateien, um schliesslich wieder zu Bildern zu werden. | Musikvideo: Kakaphonische Regentropfen sind im Song und Video der Ausgangspunkt.


Bild: © «I Felt Like Destroying Something Beautiful», Katrin Jucker, CH, 2016, 3′ → Video

Video: © «Order from Chaos» (Musikalbum «Emergence», Max Cooper), Maxime Causeret, FR, 2016, 4′18′′
 

Fantoche 2017 – meine Darlings #1:
«Loving Vincent» – ein cinematographisches Juwel

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