Annette Peacock (*1941) gehört zu den eindrucksvollsten Randgängerinnen zwischen ausgefeilter Jazzkomposition und komplexer Rockmusik, zwischen klassischer Jazz-Instrumentierung und elektronischen Neuerungen. Annette Peacock ist ein Multi-Genie, das in keine Standard-Musikkategorie passt: Songwriterin, Sängerin, Komponistin, Arrangeurin, Produzentin und Musikerin. Sie wuchs in Brooklyn/N.Y. auf, bereits als Kind spielte sie Piano und hatte nie Instrumental- oder Kompositionsunterricht. Sie ist eine eigenwillige und starke Komponistin. Ihre Songtexte sind provokativ und zen-poetisch. Der laszive Sprechgesang ist eine Mischung aus Seelenblues und Jazz. Schlau, entspannt, sexy. Sehr innovativ und kreativ — bereits 1968 rezitiert sie ihre Texte als Raps, schickt Ende 60er ihre Stimme durch den Ringmodulator und experimentiert mit Rockrhythmen. Paul Bley lernt sie 1962 kennen: Ihr damaliger Ehemann Gary Peacock war Jazz-Kontrabassist in der Band von Paul Bley. Bald beginnt Annette mit Paul eine Liebesbeziehung, die rund 10 Jahre dauert. Zwischendurch zieht sie ihre gemeinsame Tochter in England in Ruhe gross. Sie komponiert Paul Bleys Repertoire von 1964 bis 1973. Paul Bley führt den musikalischen Diskurs auch nach der Trennung fort. Annette Peacock ist Pionierin im Synthie Pop und in live gespielter elektronischer Musik. Ihr Debutalbum «I’m the One» erscheint 1972 bei RCA Victor, im Label von David Bowie und Lou Reed zu dieser Zeit. «I’m the One» vereinigt Blues, Jazz, Avantgarde-Elektro-Musik und eine sehr freie Form von Poesie und Rap. Es ist live aufgenommen und mehrheitlich in Single Takes, auch den Moog-Synthesizer setzt sie interessant ein. Unter dem eigenen Label Ironic veröffentlicht sie 4 weitere Soloalben. 1988 verschwindet Annette Peacock fast ganz aus dem Musikgeschehen. 1997 kommt sie zurück: Mit einem Kompositions- und Arrangementauftrag von Manfred Eicher (ECM) für ein String Quartett; sie selbst am Piano und mit ihrer Stimme. Das dauert 3 Jahre: «An Acrobats Heart» wird 2000 veröffentlicht, nach 12 Jahren Aufnahmepause. Die Musik von Annette Peacock beeinflusst bis heute und wird gespielt von vielen Musikern: David Bowie, Brian Eno, Mick Ronson, Al Kooper, Pat Metheny, Jaco Pastorius, Bill Frisell, Bill Bruford, Chris Spedding, Paul Bley, Mary Halvorson, Nels Cline, RZA, Busta Rhymes, J-Live, Ghostface Killah, Morcheeba.
Annette Peacocks einzigartig-erotische Stimme führte nie zu einer grossen Audienz mit Anerkennung und kommerziellem Erfolg wie es beispielsweise Björk, Laurie Anderson, Patti Smith oder Sarah Vaughan mit ihren Stimmen erreicht haben. Ein Talent, das zu entdecken sich lohnt.
Diese beiden Alben von Annette Peacock sind auch nach 40 Jahren superbe, visionär und frisch wie am ersten Tag:
«xDreams», Soloalbum, 1978, Aura, Annette Peacock: Komposition, Lyrics, Gesang, Piano. Es gibt keine Schwachstellen und ist ein Seelenstriptease, wunderschön wie Rock und Jazz ineinanderfinden. Noch heute ist es seiner Zeit voraus. → Reinhören
«The Perfect Release», Soloalbum, 1979, Aura, Annette Peacock: Komposition, Lyrics, Gesang, Piano.
Im Song «Survival» (14:45) rapped sie vom Hier und Jetzt über das Hier und Jetzt, poetisch und groovig. Auch auf dieses Album kann sie stolz sein. → Reinhören
«The Aura Years», 1978–1982, My Mama Never Taught Me How To Cook, 2004, Compilation (vereint die kompletten Alben von «xDreams» und «The Perfect Release» sowie Raritäten). Annette Peacock’s einzigartiger Gesang offenbart sich. Highlights: Im coolen Song «The Succubus» mit pochendem Funk breitet Annette ihr Manifest über die Sexualität aus, was eine sozial politische Polemik auslöst. Das Politische und das Persönliche koexistieren in ihren Texten in einer unangestrengten und perfekten Weise. Nicht viele würden es so auf den Punkt bringen: «Capitalism without a social conscience is dangerous and inevitably destructive». Im finsteren Song «My Mama Never Taught Me How to Cook» geht’s um Familienpolitik, Bruder-Schwester-Sex und die Anklage an die Mutter, sie nicht stärker herausgefordert zu haben, ein besserer Mensch zu werden. Grosse Songs: «Rubber Hunger», «This Feel Within». → Song «Solar Systems» hören
«I’m the One», 1972, RCA Victor: → Song «Pony» hören / → Ganzes Album «I’m the One» hören
«An Acrobat’s Heart», 2000, ECM. Kompositionen, Piano, Lyrics, Gesang von Annette Peacock; mit dem Cikada String Quartet. Ein mutiges, unkonventionelles Comebackalbum in jeder Hinsicht. Intime und grossartige Texte, Auszug: «Take the sum of your own tears. Multiply by unknown years. You’ve been so brave, unafraid. Underneath you bare the wounded child.» / «Tho I love u darling, I love happiness more. So I can’t give u my heart, tho it’s u I adore.» / «My soul searches thru universes for you, but I can’t say ‚I love you‘ out loud. Cause if I do, I might believe it too. I don’t feel sure enough to lose control.» → Reinhören AllMusic
Annette Peacock & Paul Bley» — gemeinsame Alben
Bley-Peacock Synthesizer Show: «Revenge – The Bigger the Love the Greater the Hate», 1971, Polydor, live.Einer der ersten Bob Moog Synthesizer kam erstmals live zum Einsatz. Robert Arthur Moog, war ein amerikanischer Pionier der elektronischen Musik und der Erfinder des Moog-Synthesizers, eines der ersten weitverbreiteten elektronischen Musikinstrumente. Bley-Peacock Synthesizer Show, Songs hören: → «Mr. Joy» / → «A Loss of Consciousness» / → «Dreams»
Neue Herausgabe auf Ironic, 2014, unter Annette Peacocks Namen «I Belong to a World That’s Destroying Itself», Song hören: → «Anytime with You»
«Dual Unity», Annette Peacock & Paul Bley, 1972, Freedom, Song hören: → «M.J.» (17.22)
Paul Bley. Blank Paper — Die Eleganz von Sauersüss
«Etwas entdecken, was ich zuvor nicht gekannt habe».
Paul Bley spiegelt die ganze Jazzgeschichte in seiner Biografie (*1932, † 2016) als vielseitiger Avantgarde Pianist & Komponist. Auf seiner künstlerischen Reise war er an allen Übergängen und Umbrüchen beteiligt und jeder Welle voraus. Aufgewachsen in Montreal spielt er mit 5 Violine und wechselt mit 8 zum Piano, mit 13 gründet er seine erste Band und mit 20 Jahren hat er sein professionelles Debut. Paul Bley nahm am liebsten in New York auf, die unterschiedlichen Energie-Levels inspirierten ihn. Er hat auf dem Piano alle Jazzmusiker, die Jazzgeschichte schrieben, profiliert begleitet. Seine Offenheit führte zu Abstechern in die neue und in die elektronische Musik, hier entdeckte er die Langsamkeit. Die Improvisationsästhetik ist grosszügig und offen wie ein frischer Wind und das Pianospiel nonchalant. Die Musik besticht durch Klarheit & Ruhe, bewusste Akzente und karge Klänge. Das Solospiel auf dem grandiosen Album «Open, to Love» ist stilbildend und hat auch Keith Jarrett beeinflusst. Frei von Konzept und Material auf den Moment reagieren und frei improvisieren, passend zum Ort, Atmosphäre, Publikum und Musikpartnern. Also viel riskieren und unberechenbar bleiben. Bley suchte stets Positionen jenseits der Norm und hatte doch historisches Bewusstsein in der freien Jazzimprovisation durch seine Erfahrungen im Bebop. Er besass kein eigenes Piano und übte nie. Wenn er spielt, beginnt er mit einem . Warum tut er das? Damit nichts berechenbar wird und ihn einengt, nach seinem Motto: «Anything you play twice is once too much.» «An Konzerten spielen ist am ehrlichsten, wie ein Eintrag in ein Tagebuch, da wird nichts präpariert und nachproduziert, du spielst wie du dich gerade fühlst.» Seine beiden eigenwilligen und starken Ehefrauen & Komponistinnen prägen ihn: Die frech-lakonische Musikalität der Pianistin Carla Bley alias Carla Borg — sie ist heute eine führende Komponistin und Arrangeurin des Jazz — und später Annette Peacock mit den neuen Klängen. Mit Carol Gross, einer Videokünstlerin, lebte er 45 Jahre bis zum Tod zusammen, sie hat viele Covers im Art Work verantwortet. Sein Credo: «Improvisation ist Nahrung für das Hirn der Hörer. Das Leben ist tödlich, aber nicht sterbenslangweilig.»
Paul Bley hat über 100 Alben eingespielt, jedes ist anders. Meine Favoriten als Trio, Duo und Solo:
«Ojos de gato» ist eine meiner liebsten Balladen, komponiert von Carla Bley, vom Album «Alone, Again», Paul Bley, Solopiano, Oslo, 1975, Improvising Artists Inc. (Label by Paul Bley). → Hören
«The Nearness of You», Paul Bley Trio, gespielt von Paul Bley (Piano), Ron McClure (Bass), Billy Hart (Drums), 1988, SteepleChase. Die gleichnamige Ballade des Albums ist wunderschön: → Hören
«Diane», Chet Baker (Trompete) & Paul Bley (Piano), 1985, SteepleChase, mit der beeindruckenden Ballade «If I should lose you»: Erotisch, traurig und inspirativ: → Hören
«Lyrics», 1991, Splasc(H) Records, Paul Bley und die italienische Sängerin Tiziana Ghiglioni, zwei Grössen im Duet oder Solo, 7 Kompositionen von Paul Bley und Standards. Lyrisch schön, ohne Kitsch. → Reinhören iTunes
«Annette», von Paul Bley (Piano) mit Franz Koglmann (Flügelhorn/Trompete), Gary Peacock (Bass; Ex-Mann von Annette Peacock), 1992/1993, Label: hat ART. Bis auf einen Song basiert das Album auf den Kompositionen von Annette Peacock. Der gleichnamige Song «Annette», ist eine kollektive Improvisation der 3 Musiker. Ein Tribute-Album an grosse und originelle Artisten. → Reinhören jpc
«Synth Thesis», Paul Bley, 1994, Postcards, eines seiner provokativsten und besten Alben in den 90ern. Er spielt Piano und begleitet sich auf dem Synthesizer. Dieses Werk wurde verkannt, da seiner Zeit voraus. In diesen Songs meisterhaft hörbar: «Augmented Ego», «Poetic License», «Still Life» «Polygons». Paul Bley, Annette Peacock und Glenn Gould waren frühe Champions auf dem analogen Moog Synthesizer. → Reinhören
«Time Will Tell», Paul Bley (Piano), Evan Parker (Sopran-/Tenorsaxophon), Barre Phillips (Kontrabass), 1995, ECM. → Musikvideo
Auch empfehlenswertes Album in gleicher Formation, «Sankt Gerold», 2000, ECM: → Reinhören AllMusic
«Not Two, Not One», Paul Bley (Piano), Gary Peacock (Kontrabass), Paul Motian (Drums), 1998, ECM.
Das Trio spielte zusammen in den 60ern und schrieb Musikgeschichte; 35 Jahre später initiierte Gary Peacock eine erneute Zusammenarbeit; dabei entstand dieser spezielle Sound, der von Bleys Pianospiel beleuchtet wird. Die Ballung von drei grossen Meistern, die sich verstehen und völlig anders entwickelt haben. Bestechend: «Don’t You Know», «Not Zero», «Fig Foot», «Entelechy» (grosses Solo von Gary Peacock), «Now». «Vocal Tracked». → Reinhören AllMusic
«Circles», Paul Bley, 2004, Milestone Records, mit Kompositionen von Annette Peacock (8), Carla Bley (3), Paul Bley (1). Vom Avantgard Jazz zum Free Jazz, findet sich alles. Ein Pionier-Album: Bley schafft eine neue elektronische Landschaft mit dem noch neuen ARP-Synthesizer, dem elektrischen und dem akustischen Piano; er wird begleitet u.a. von Dave Holland und Barry Altschul. Das Besondere: Die beiden Milestone-Alben «Paul Bley’s Synthesizer Show from 1971, und «Paul Bley & Scorpio from 1972» werden neu aufgelegt und interpretiert. Meine zwei Lieblingsstücke, das mysteriöse «Nothing Ever Was Anyway» und das farbige «Circles». → Reinhören AllMusic
«Play Blue», Oslo Concerts, Paul Bley Solopiano (Ballads), 2008/2014, ECM. Die Balladen «Flame» und «Longer» sind bezeichnend für Paul Bleys wunderbares Spiel: durchwegs lyrisch, unsentimental, im Wechselspiel von Drama, Legato, Staccato. Alle Kompositionen von Paul Bley, ausser Pent-up House von Sonny Rollins. → Reinhören AllMusic
Soloalben Paul Bley:
«Open to Love», Paul Bley, Solopiano, 1972 ECM. Raum, Stille und langsame Tempi, das singende Zusammenspiel von Obertönen beim Zerfall von angeschlagenen Akkorden. Radikal. Wie kam es zum ersten Soloalbum? «Der Anruf von ECM/Manfred Eicher erreichte mich in einer Zeit, als ich versuchte, der langsamste Pianist der Welt zu sein, was wiederum mit dem Werk zu tun hatte, mit dem ich damals gerade meine elektronische Phase beendet hatte: Eines der Dinge, die ich an der Elektronik mochte, war, dass sie einem die Möglichkeit gab, Töne lange zu halten. Bei meiner Rückkehr zur akustischen Musik wollte ich auf dem Flügel dasselbe erreichen, was mir zuvor mit Hilfe der Elektronik gelungen war.» → Reinhören AllMusic
«Solo in Mondsee», Paul Bley, Solopiano, 2007, ECM: 35 Jahre später entsteht das fast einstündige Improvisations-Recital der I –X-Mondsee-Variation auf dem Börsendorfer Flügel. Donnernd aus dem Stegreif, mit zersplitterten Melodien, ein Hauch von Standards, abstrakter Blues, völlig frei und spontan improvisiert. Überraschende Schönheit, überraschender Intellekt.
→ Reinhören iTunes
Links:
→ Diskografie von Annette Peacock
→ Songtexte von Annette Peacock
→ Diskografie von Paul Bley
→ «Thoughts on electronic music and synthesizers»: Ein interessanter und witziger Text von Paul Bley.
Musik & Covers: © by Annette Peacock und Paul Bley sowie den erwähnten Labels und Musikern.
Share this Post