Meine Literaturempfehlungen 2022

# Zufälle

Acht gute Bücher, die durch eine ungewöhnliche Erzählweise und Geschichte bestechen. Lustig, lebensklug, interessant, überraschend. Sehr französisch, italienisch, amerikanisch, deutsch, holländisch, nordisch und japanisch. Literatur, die irrwitzige Reisen mit neuen Sichtweisen erlaubt.

Das Jahresbankett der Totengräber
Mathias Enard, Frankreich, 2021 (2020), 465 Seiten; exzellent übersetzt: Holger Fock & Sabine Müller

David Mazon ist Anthropologe und lebt in Paris. Faul, unbegabt, blasiert. Für seine «Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert» fährt er nach Bas-Poitou, das im dörflichen Westfrankreich zwischen Loire und Gironde liegt. Er will die Sitten & Bräuche beobachten. Die Gegend: Landwirtschaft, Sumpfgebiet, dünn besiedelt. Die knorrigen Dorforiginale ziehen ihn und uns in den Bann und bald ist er involvierter ins Landleben als er es sich je hätte träumen lassen. Kartenspiel, Jagd & Fischen, Blutwurst, Mittelalter und existenzielle Fragen werden auf verschiedenen Ebenen gemischt: Wir erkennen Zusammenhänge zwischen Lebewesen und Dingen, Zeit und Raum, Landschaft und Geschichte. Umwerfend. Wir gehen auf Seelenwanderung und erleben, wie ein toter Abt als Wildschwein wiedergeboren wird. Beim Tod eines Lebewesens, sei es Mensch oder Tier, wandert die Seele sofort in einen anderen Körper. Höhepunkt ist das Jahresbankett der Totengräber: Ein Fest. Riechend und schmeckend nehmen wir mit allen Sinnen daran teil. Die Figuren: Von der hart arbeitenden jungen Biobäuerin bis zu den britischen Rentnern im Lebensabend-Exil, von der Coiffeuse, die als Ich-Unternehmerin durch die Dörfer reist bis zu Thomas, dem dicken Wirt des Anglercafés – sozialer Dreh- und Angelpunkt. Vom Künstler Max über den letzten Dorfpfarrer bis zu Martial, dem Bürgermeister und einem der titelgebenden Totengräber des Romans. Das Schicksal: Alles ist miteinander verbunden in einem riesigen Geflecht aus unsichtbaren Fäden ohne Zeit.

Literarisch atemberaubend, radikal modern: Ein kühnes, abwechslungsreiches, fliessend-elegantes und üppiges Mahl, das glücklich macht. Humoristisch geistreich.


 
Der aufrechte Mann
Davide Longo, Italien, 2013 (2010 I), 477 Seiten

Italien. Endzeit. Ein Roadmovie. Streunende Hunde. Leere Strassen. Lebensmittel, Benzin, Zigaretten sind rar. Geschäfte und Banken schliessen, es ist kein Geld mehr im Umlauf. Eine verrohte Gesellschaft, marodierende Wilderer, ein folternder Guru mit infantilisierten Konsumanhängern. Leonardo, ein Autor und Universitätsprofessor, zögert in diesem Ausnahmezustand. Er und sein Leben sind ebenso im Ausnahmezustand. Träg verschliesst er die Augen vor dem Zusammenbruch der «alten Ordnung». Die Gewalt trifft ihn wie eine Lawine und er verliert alles. Erst da lernt er, sich zu wehren. Eindringliche Naturbilder kontrastieren mit der Ästhetik der (Schreckens-) Geschehnisse und der poetischen Bildhaftigkeit der Sprache. Ein Kosmos, der mich umgehauen hat.


 
Sendbo-o-te
Yoko Tawada, Japan, 2018, 193 Seiten

Schwebende Schwere schärft unsere Vorstellungskraft, mal alles mit andern Augen zu sehen: Ein Hundertjähriger pflegt seinen Enkel Mumey. Die Alten sind kräftig und können nicht sterben. Die Jungen krank und weise. Ein völlig abgeschottetes Japan nach der ökologischen Katastrophe – was genau, bleibt offen. Das prekäre Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt lässt Tawada in wenigen Sätzen Wirklichkeit werden. Das Leben des Grossvaters und des Enkels Mumey geht zugrunde und blüht zugleich auf. Bizarre Imagination. Mumey hat den Eindruck, sein Körper und die Kontinente würden verschmelzen, als ihm in der Schule eine Weltkarte gezeigt wird. Er spürt den terrestrischen Schmerz körperlich: «Wasser aus geschmolzenem arktischen Gletschereis, der kalte Ozean, – meine Hirnmasse. Eine kompliziert eingefaltete Topographie. Meine Lunge ist die Wüste Gobi.» Tawadas Leichtigkeit der Sprache, die poetischen Bilder und die amüsant ungewöhnlichen Wendungen sind bezaubernd: «Die arme Waschmaschine durchlief alle Leiden, wenn sie diese schweren Tücher im Kreis in ihrem Bauch herumwälzen musste. Das nahm sie so mit, dass sie nach drei Jahren, völlig erschöpft, an Überarbeitung starb. So sind eine Million toter Waschmaschinen auf den Grund des Pazifiks gesunken, wo sie den Fischen als Kapselhotels dienen. Nun gibt es nur noch ganz kleine Handtücher, die schnell im Wind trocknen.» Wir driften in der Phantasie und im verträumten Schreibstil von Yoko Tawada mit und werden zum Nachdenken angeregt.

Ebenso empfehlenswert: «Sprachpolizei und Spielpolyglotte». «Das nackte Auge». «Talisman». «Das Bad». «Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden».


 
Elijas Lied
Amanda Laser-Berlin, Deutschland, 2020 (Debüt-Roman), 252 Seiten

Drei Schwestern, jede steht für ein wichtiges politisches Gesellschaftsthema und hat ein persönliches Schicksal: Elija, die älteste mit Downsyndrom ist Theaterschauspielerin, hat ein Auge für Schönheit, tanzt sehr gut. Auf der Bühne als Hagar mit Kind im Bauch kann sie Mutter sein, im realen Leben nicht. Loth ist bildschön, immer wütend, bricht das Studium der Soziologie ab, ist magersüchtig und schliesst sich in Halle einer rechtsradikalen patriotischen Hausgemeinschaft als Aktivistin an. Um gegen die linken Meinungsfaschisten zu kämpfen. Sie findet, dass ihre Schwester Elija kein Recht auf Leben hat. Noa arbeitet in einer Kantine an der Theke und ist in ihrer Freizeit Prostituierte für Pflegepatienten in Altenheimen oder für Behinderte. Ihr Freund Akim arbeitet erfolgreich im Glasturm an der Elbe und versteht Noas Freizeit-Helfersyndrom nicht. Die drei Schwestern haben sich auseinandergelebt. Eines Tages brechen sie zu einer gemeinsamen Wanderung ins Moor und in die Berge auf, die sie mit dem Vater als Kinder gemacht haben. Sie wollen das Lied gemeinsam singen, das er für sie gedichtet hat. Das ist Loth’s Idee. Die Realität trifft die Erinnerung nicht. Das Buch ist in Tages-Zeitfenster unterteilt, da werden in einem Zeitstrang die fortlaufende Wanderung und Ereignis-se erzählt, die sich zum Extrem zuspitzen, daneben gibt immer eine Schwester Einblick in ihr Leben, ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Spuren werden gelegt und verdichtet, die Figuren greifbar, aber nicht durchschaubar. In knappen Sätzen, glasklar. Literarisch und sprachlich originell. Ein überzeugender Roman.

Die Unruhigen
Linn Ullmann, Norwegen, 2020 (2015/No), 409 Seiten

Es geht um die Geschichte eines Mädchens und ihres Vaters. Kernthema ist das Altern. Vater und Tochter haben den Plan, das Altern in einem Buch gemeinsam zu dokumentieren. Er hatte immer Lust gehabt, einen seiner Filme «Der Todesfick im Tal von Eldorado» zu nennen. Vier Ehen, 9 Kinder. Es ist der autobiografische Roman von Linn Ullmann über ihre Kindheit und das Aufwachsen mit ihrer Mutter, der Schauspielerin Liv Ullmann und den jährlichen vier Wochen Sommerferien in Hammars mit ihrem Vater, dem schwedischen Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur Ingmar Bergmann. Vater und Mutter möchten am liebsten immer noch Kinder sein. Sie trennen sich bald, bleiben jedoch als Arbeitskollegen und Freunde stets verbunden. Zusammenleben geht nicht. Es gibt kein gemeinsames Foto von allen dreien. Mutter und Vater werden nie beim Namen genannt, immer «sie» und «er». Der Vater ist 48 Jahre älter als das Kind und prinzipientreu: Höflichkeit, Ordnung, Schaffenskraft und Pünktlichkeit sind sein Mantra. Er arbeitet viel und bittet sein Kind mit Terminvereinbarung zur Gesprächsaudienz. Dazwischen sind keine Störungen erlaubt. Das Kind vermisst die Mutter. Dann den Vater. Es geht um die innige Liebe zu Mutter und Vater und um eine liebevolle Familie, die sich kümmert, aber chaotisch lebt, oft scheitert, aber immer am Morgen aufsteht und weitermacht. Kennt man seine rätselhaften Eltern, sind Erinnerungen trügerisch. Der Vater schreibt seiner 2-jährigen Tochter zur Taufe einen Brief: «Ich wünsche Dir ständige Sehn-sucht und Hoffnungen, denn ohne Sehnsucht kann man nicht leben.» «Wie ist das gemeint, «ohne Sehnsucht kann man nicht leben»?» Es folgt ein persönliches Sinnieren. Oder später im Buch folgt durch eine Erkenntnis eine neue Antwort darauf. Das ist sehr schön. Ein Beispiel von vielen. Die Musik führt durch das Buch und wird zum Liebesbrief, gibt Struktur, kommentiert, spricht ohne Worte. Vom Rand des Lebens kommt es zum Abschied und Trauern. «Kann man um Menschen trauern, die noch leben?», so fragt sich Linn Ullmann immer wieder. Das Altern nimmt die Zügel sehr früh in die Hand. Unsentimental, direkt und poetisch geschrieben. Tolle literarische Form, die den unterschiedlichen Themen, Zeiten und Tempos entspricht: Von essayistisch, dokumentarisch bis hin zu autobiografischen Erinnerungen und Fiktion. Ein gutes Buch! Ein interessantes Dokument.


 
Moonglow
Michael Chabon, USA, 2019 (2016/US), 493 Seiten

Ein alter Mann auf dem Sterbebett berichtet seinem Enkel die unglaubliche Geschichte seines Lebens. Der Grossvater wird in den letzten 10 Tagen seines Lebens erstmals gesprächig. Wir erfahren von seinem leidenschaftlichen Leben für die Raumfahrt, von seiner jüdischen Familie und wie er zwischen Europa und Amerika geschichtlich hin und her springt über mehrere Generationen. Unglaubliche Eskapaden und Anekdoten. Von Mondlandung, Weltkrieg und Holocaust und der abenteuerlichen Jagd nach dem Raketentechniker Wernher von Braun. Er erzählt von der psychischen Krankheit seiner Tochter, der Mutter des Enkels, und wie es dazu kam. Chabon besticht durch erzählerische Fantasie und sprachliche Eleganz. «SZ» bringt es auf den Punkt: «Sehr amerikanisch, sehr jüdisch, sehr lustig und lebensklug, ein Pageturner.»

Die siebte Sprachfunktion
Laurent Binet, Frankreich, 2017 (2015/F), 528 Seiten

Ein Sittenbild des aufgekratzten Paris in den 80ern. Der Semiotiker und Professor Roland Barthes wird überfahren, Zeuge ist der Philosoph Michel Foucault. Mord? Kurz zuvor war Barthes beim Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand und trug ein Manuskript auf sich. Wir werden zu Semiotik-Detektiven und folgen den Spuren zu Motiven von Paris nach Ithaka, Bologna, Venedig und zurück nach Paris. Aufregende semiologische Abenteuer & Flirts. Französische Intellek-tuelle sind Popstars. Schlüsselfiguren: Derrida, Althusser, Foucault, Bernard-Henri Lévy, Umberto Eco, Judith Butler, Gilles Deleuze, Roman Jakobson, Philippe Sollers, Julia Kristeva, Noam Chomsky etc.. Im Geheimclub «Logos» finden rhetorische Kämpfe statt. Um diese Topografie der Symbole der Strukturalisten und Poststrukturalisten zu verstehen holt sich Kommissar Bayard den Akademiker Simon Herzog als «Übersetzer». Beide hassen die Welt des andern. Kriminalistik und Semiologie? Beobachten, hinsehen, decodieren: Sprache, Dinge, Körper – alles ist Sprache. Codes in Abba-Songs werden entschlüsselt, der Wahlkampf zwischen Mitterrand und Giscard d’Estaing oder ein Tennismatch zwischen Borg und McEnroe in einem semiotischen Licht gesehen. Toll. Witzig. Klug. Überzeichnet. Gedanken, Dialoge und Handlungen fliessen ineinander. Binets Erzählkunst ist ein intellektuelles und erotisches Vergnügen: «Die Lust am Text» um Barthes zu zitieren. Um welche Macht es in der siebten Sprachfunktion geht, sei hier nicht verraten!


 
Rolien & Ralien
Josepha Mendels, Niederlande, 1947/2017, 180 Seiten

Rolien ist elf Jahre alt und bewegt sich in der magischen Puppenwelt, an der Schwelle der Entdeckung des Körperlichen. Atemlos und phantasieübersprudelnd wechseln die sinnlichen Rollenspiele, entschlossen sensibel, verwegen stark. Sie ist «mädchennärrisch». Ihre Schulaufsätze werden zensiert, ein Mädchen von 11 Jahren schreibt nicht über Schneemänner und eingeschneite Puppen. Puppen können weder erfrieren noch Kinder kriegen. Nicht mal eine Erkältung, höchstens zerbrechen oder kahl werden. Tod und Geburt sind als Aufsatzthemen nicht akzeptiert. Rolien erfindet «Ralien», eine anspruchsvolle Freundin. Zunehmend manipuliert «Ralien» Rolien. Diese Dissonanzen irritieren Mitschüler und Familie. Rolien ist kein süsses Kind. Im zweiten Teil ist Rolien erwachsen und lebt in Paris. Während sie durch die Stadt spaziert und auf Sätze wartet, begegnet sie interessanten Personen. Rolien ist eine Künstlerseele in einer Zeit, in der von Frauen erwartet wurde, keine Künstlerinnen zu sein. Die Wiedergabe von Eindrücken ist ein literarisches Meisterwerk.

Ebenso empfehlenswert: «Du wusstest es doch». Eine Liebesgeschichte zwischen Ekstase und Schicksal. Kompromisslos. Exzentrisch witzig. Frei und tief.

Buch, Rolien & Ralien Josepha Mendels, Niederlande
 
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© Fotos Francisco Paco Carrascosa Zürich

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