Fantoche 2022 – Frisches Grün im Animationsfilm

# Zufälle

«Unicorn Wars» von Alberto Vázquez – Langfilm
Alberto Vázquez hat mich bereits im 2016 am Fantoche mit seinem herausragenden Langfilm «Pisconautas» begeistert. Seine Filme schmerzen, stören und haben eine tiefsitzende Botschaft. Bis an die Zähne bewaffnet ziehen Teddybärenjunge als «Kanonenfutter» in den Krieg gegen die majestätischen Einhörner. Gezeichnet ist es als verlorenes Paradies, inmitten eines bezaubernden, von entzückenden Tieren bevölkerten Waldes, in wunderschön schimmernden Bildern und einer überwältigenden Farbenwelt. «Die verbotene Frucht» sind fluoreszierende «Wesen», denen das Teddybärenregiment nicht widerstehen kann. Sie erleben einen halluzinogenen Horror. Die Hauptprotagonisten sind zwei Teddybären-Zwillinge, Azulín (Bluey) und Gordí (Dickerchen). Azulín ist narzisstisch, ehrgeizig, hitzköpfig und machthungrig: er sehnt sich nach dem Blut des letzten Einhorns, um ewig schön zu sein. Jedes Mittel ist ihm recht, das zu erreichen. Gordí ist ungeschickt, verfressen, hässlich und wird im Camp ständig gedemüdigt. Eine ambivalente Beziehung. «Unicorn Wars» ist als bunte Kindergeschichte getarnt mit niedlichen Teddybär-Animationen, der Regisseur zeigt eine moderne biblische und mythologische Geschichte mit all ihren Schrecken. Es geht um das Beherrschen von den anderen und mit welchen Mitteln das erreicht werden kann: Dem Erfinden von Geschichten und damit einer kollektiven Gehirnwäsche, um Macht zu erlangen. Eine actionreiche Antikriegsallegorie mit Tiefgang. Mein Festivalfavorit.



© «Unicorn Wars», 83′ (ES/EN), 16+, ES/FR 2022, Alberto Vázquez → Film gratis anschauen
 
«Nayola» von José Miguel Ribeiro – Langfilm
«Willkommen in Angola, wo es viel Ärger gibt …» – die freche und begabte Rapperin Yara prangt Missstände im Kampf um das tägliche Überleben an. Im friedlichen Angola 2011 will sie ihre CD mit dem Titel «New Country» illegal verbreiten.
Yaras Mutter, Nayola, ist 1995 in den Krieg gezogen um ihren Ehemann zu suchen. So wächst Yara bei der Grossmutter auf, wo sie immer noch wohnt. Wir erleben ein Panorama des angolanischen Bürgerkriegs von 1995 bis 2011 und dessen zerstörerischen Auswirkungen. Der mörderische Wahnsinn wird sichtbar: Ruinen, Bombenangriffe, Minenfelder, Folterungen, Hinrichtungen im Schnellverfahren in absurd verlassenen Gegenden. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist fliessend. Der Film ist ein Fensterspiegel durch zwei Epochen und drei Generationen von Frauen: Die Grossmutter Lelena, ihre Tochter Nayola und ihre Enkelin Yara. Die zwei Zeitepochen werden fesselnd historisch rekonstruiert im Rhythmus der Konflikte der Vergangenheit und der nächtlichen Überfälle der Gegenwart: zeichnerisch verstärkt werden die Epochen in zwei unterschiedlichen Stilen gehalten und nebeinander gestellt, mit eingeschobenen traumartigen Passagen, die wie Gemälde wirken. Raffiniert komponiert und variantenreich animiert in den Übergängen der Zeiten. Die Debut-Inszenierung überzeugt in Qualität, künstlerischer Sensibiliät und der Balance zwischen Spannung, Bedrohung und Magie und mit einer guten Geschichte, die hoffen lässt.



© «Nayola», 83′ (PT, Kimbundu), PT/BE/NL/FR 2022, José Miguel Ribeiro → Video
 
«The Island» von Anca Damian – Langfilm
Ein surreales Märchen über das moderne Leben des schiffbrüchigen Robinson Crusoe – eine Neudichtung. Robinson ist kein verzweifelter Seemann, der gestrandet ist, sondern der freiwillig seine Tage auf der Insel verbringt. Eines Tages wird Freitag an den Strand gespült als einziger Überlebender eines Bootes, das Italien erreichen will. Aktuelle Themen werden elegant eingewoben: Die Hinterfragung der kolonialistischen Sichtweise des Originalbuches, Umweltverschmutzung oder der europäische Umgang mit Flüchtlingen. Die Dialoge sind alle als Sprechgesang konzipiert, der in ausgefeilte Liedsequenzen übergeht. Es entsteht eine innovative Tongestaltung, die poetisch-frisch verzaubert. Wir gehen mit auf die Reise, erleben die Langeweile und Melancholie von Robinson. Sein Traum eines Lebens in der modernen Konsumwelt ist bildgewaltig und fantastisch inszeniert mit skurillen Begegnungen von Kriminellen, Meerjungfrauen und Grenzwächtern. Überraschend. Der Migrant Freitag bleibt zurück am Strand und versucht, sein eigenes Paradies aufzubauen. Ein wilder, komischer Film mit freien Assoziationen und visueller Poesie. Ein Erlebnis und Filmschatz.



© «The Island», 85′, EN/de, 14, RO/FR/BE 2021, Anca Damian → Video
 
«Dozens of Norths» von Koji Yamamura – Langfilm
Ein zutiefst japanischer Experimentalfilm in der Tradition des Stummfilms: Er erinnert mich an die Welt des Theaters. Der Film basiert auf den prachtvollen handgezeichneten Illustrationen mit eingeflochtenen Zitaten, die Koji Yamamura zwischen 2012 und 2014 im Magazin «Bungaku-Kai» veröffentlich hat (32 Ausgaben). Ein Film über das Menschsein, den Sinn des Lebens, das Unterbewusstsein, die Gemütszustände mit Leiden und Ängsten, Selbstzweifeln und der damit verbundenen Dunkelheit, die uns Menschen immer ab und an heimsucht. In der Erzählung findet das Dunkel im Dunkel immer ein Licht. Koji Yamamura verarbeitet u. a. damit den Tsunami von 2011 und dessen katastrophalen Folgen in Fukushima. Es ist eine düstere, existenzielle Weltsicht mit schwarzem Humor. Vieles bleibt rätselhaft und regt die Phantasie an. Musikalisch grandios getragen wird der Animationsfilm vom Album «Drums in the Night/The Resistible Rise of Arturo Ui» von Willem Breuker (1944–2010) und dem Sounddesign von Koji Kasamatsu: Der Klang von kalten Winden, rostigen Maschinen und brechenden Wellen verstärkt das Gefühl von tiefer Leere und Einsamkeit. Improvisation pur: Musik, Sounddesign, Animation von Illustrationen und Text verweben sich zu einem poetischen Gesamtkunstwerk aus einem Guss von grosser Schönheit.



© «Dozens of Norths», 64′, ohne Dialog (JP/En), 14+, JP/FR 2021, Koji Yamamura → Video
 
«The House of the Lost on the Cape» von Shiny Kawatsura – Langfilm
Die Trümmer der zerstörten Häuser prägen die Küste und erinnern an eine Mondlandschaft. Es sind traumatische Erinnerungen an das grosse Erdbeben Tõhoku im Jahr 2011. Viele Menschen haben alles verloren. Die stumme 8-jährige Hiori ist ein Opfer dieser Naturkatastrophe, sie hat ihr die Sprache genommen. Die 17-jährige Ausreisserin Yui nutzt diesen chaotischen Ausnahmezustand, um unterzutauchen und so ihrem gewalttätigen Vater zu entkommen. Heimatlos treiben sich die Mädchen im Essenszentrum herum und werden von einer alten mysteriösen Frau, die sich als ihre Grossmutter ausgibt, vor dem Heimaufenthalt gerettet. Die Frau lebt in einem sehr abgelegenen Haus auf einem Kliff in einer eindrücklichen Naturkulisse. Wunderliche Dinge passieren im magischen Haus der alten Dame. Die Wünsche der Mädchen und Gäste werden charmant und wie von Zauberhand erfüllt. Das Essen verzückt und verblüfft die Mädchen. Die Harmonie wird von sagenhaften Ungeheuern und Wesen gestört, die sich immer stärker bemerkbar machen. Allmählich blühen Yui und Hiori auf, fassen Selbstvertrauen und finden wieder Freude am Leben. Sie wenden das Blatt durch ihren Lebenswillen. Es ist eine wunderbare Coming-of-Age-Geschichte, die gekonnt Fragen zum Schicksal und dem Trauern stellt und den Durchhaltewillen auf kindgerechte Weise aufzeigt. Ein Meisterwerk: Vom Drehbuch bis zur visuellen Animationslandschaft.



© «The House of the Lost on the Cape», 105′, JP/en, 12+, JP 2021, Shinya Kawatsura → Video
 
«Yuku et la Fleur d’Himalaya» von Arnaud Demuynck und Rémi Durin – Langfilm
Dieser Musical-Kinderfilm ist grossartig gezeichnet mit einem herausragenden Drehbuch. Die kleine Maus Yuku spielt Ukulele und stimmt so auf die Märchenstunde der Grossmutter ein. Die Grossmutter ist eine grosse Geschichtenerzählerin und Wächterin der riesigen Bibliothek im Schloss. Gespannt lauschen die Mäusekinder und lassen ihr Phantasie gleiten oder lösen Rätsel. Die magische Blume des Himalaya ist Yukus Lieblingsgeschichte. Yuku will das Erbe der Grossmutter antreten als Vorleserin und die Familiensaga fortschreiben. Eines Tages macht sich deshalb Yuku auf den Weg, diese Blume zu finden und erlebt eine abenteuerliche Reise. Gefahrvolle Feinde werden zu Freunden und unterstützen Yuku auf ihrem beschwerlichen Weg. Das Spiel auf der Ukulele bezaubert und die virtuos vorgetragenen Lieder lassen Tiere, Berge und Widerstände schmelzen. Am Ende schafft es Yuku, die Blume des Himalaya zum Erblühen zu bringen und so der Grossmutter beim Sterben auf ihrer letzten Reise den Weg zu leuchten. Noch nie war Sterben poetischer und natürlicher für Kinder erlebbar. Es ist berührend und macht Mut, den Tod auch im Alltag wieder in unser Leben zu integrieren.



© «Yuku et la Fleur d’Himalaya», 62′, FR/en, 4+, FR/BE/CH 2022, Arnaud Demuynck, Rémi Durin → Video
 
Ausserdem, Filme, die in ihrer Machart aufgefallen sind:

«Silver Bird and Rainbow Fish» von Lei Lei – Langfilm
Dokumentarfilm. Lei Lei begibt sich auf seine persönliche Identitätssuche. Mit seinem Vater und Grossvater nimmt er in Interviews Gespräche auf und legt damit die Geschichte als O-Ton-Oral-History an. Lei Lei schafft es, die Gespräche so im Film anzulegen, als sässen die drei alle gemeinsam am Tisch. Toll. Die dokumentarischen Fotos versieht Lei Lei in den Gesichtern mit Plastilin (Knetmasse) und animiert diese im Ausdruck mit Exzellenz. Zuammen mit eigens für den Film geschaffenen Bergen, Menschen, Flüssen und monochromen Propagandabildern schafft Lei Lei so collagenartige Hintergründe, die sich visuell interessant zu einem farbenfrohen Familienepos zusammenfügen. Er legt viele Pausen ein und gestaltet das Erzählte live mit seinen Händen, die fester Bestandteil des Films werden. Als Betrachterin bin ich mittendrin im Entstehen dieses Animationsfilms. Kernpunkt der Geschichte ist die Kulturrevolution der 1950er und 1960er Jahre. Sein Grossvater ist Bankangestellter und wird weit weg aufs Land geschickt, während er seine sehr kranke Frau alleine zurücklässt mit den Kindern. Der Gehorsam und die Pflicht stehen über allem. Die Mutter stirbt in seiner Abwesenheit. Die drei Kinder kommen ins Waisenhaus. Der Regenbogenfisch rettet die Familie. Eine charmante Erzählweise, die überzeugt, komplett entschleunigt. Visuell ein Fest.



© «Silver Bird and Rainbow Fish», 104′, Mandarin/en, 8+, US/NL 2022, Lei Lei → Video

«I Am What I Am» von Haipeng Sun – Langfilm
Ein temporeicher Sportfilm zur Kunst des agilen Löwentanzes. Kostümierte Sportler imitieren die Bewegungen eines Löwen und verbinden damit die Kampfkunst mit Musik. Eine der ältesten Traditionen Chinas. Ästhetisch und rasant. Virtuos und wild. Souverän und trickreich. Identität und Selbstfindung. Nach diesem Film ist klar: Löwentanz ist meine neue Sportart. Eine sympathische Aussenseiter-Geschichte von drei Jugendlichen, die auf dem Land in Armut leben, ohne Perspektive. Durch die Familiennot riskieren sie ihre Gesundheit in gefährlichen Gelegenheitsjobs. Der pensionierte Löwenkönig und Salzfischhändler wird mit den drei Jungs im Training selbst wieder lebendig. Mit dem Löwentanzwettbewerb kommt die Wende. Atemberaubende und hyperrealistische Computeranimation. Der goldfarbene Wald mit Krepppapierdach aus safranroten Blättern hat mich besonders beeindruckt. Ein Anti-China-Heldenfilm.


© «I Am What I Am», 104′, Mandarin/en, 8+, CN 2021, Haipeng Sun → Video

«The Timekeepers of Eternity» von Aristotelis Maragkos – Langfilm
Auf dem Linienflug von Los Angeles nach Boston erwachen einige wenige Fluggäste nach einem langen Schlaf und stellen fest, dass die andern Passagiere inkl. Flight-Attendants spurlos verschwunden sind. Basierend auf der Fernsehfilm-Horrorserie «The Langoliers» von Stephen King druckt der Regisseur Aristotelis Maragkos jedes einzelne Bild schwarz-weiss aus und ordnet diese collagenartig neu an. Bilder werden überlagert, zerrissen oder zerknittert. Damit wird das übernatürliche Drama minutiös als Schwarz-Weiss-Collage-Animation erzählt. Ein verstörender Alptraum. Zusammen mit den verzerrten Perspektiven der Figuren erzeugt er ein surreales, hypnotisches und unheimliches Seherlebnis. Ein innovativer Experimentalfilm, der beklemmend nachhallt.


© «The Timekeepers of Eternity», 62′, EN/de, 14+, GR 2021, Aristotelis Maragkos → Video

Internationaler Wettbewerb, Schweizer Wettbewerb – Kurzfilme
Real und unsichtbar: Ein gemaltes Stillleben wird durch ein Erdbeben verändert und der Berg beginnt zu wachsen. Kinder tanzen, der Friede wird durch ein Mädchen und einen Vogel unterwandert. Muster laufen fort. Insekten werden transformiert zu realen und virtuellen, nicht endenden Mustern.
«Iizuna Fair» Sumito Sakakibara, JP 2021, 11′32′′ → Video
«Bird in the Peninsula», Atsushi Wada, FR/JP 2022, 16′ → Video
«Cherry Bone», Evgenia Gostrer, DE 2021, 17′35′′ → Video
«Epicenter», Heeyoon Hahm, KR 2022, 10′29′′
«Intermission», Réka Bucsi, HU 2022, 4′50′′
«Intersect», Dirk Koy, CH 2021, 18′23′′ → Video

© Bilder «Epicenter», «Cherry Bonde», «Bird in the Peninsula»

Reflection I + II – Kurzfilme
Lichtschalter werden zu expressiven Gesichtern. Sprache und Migration: ein Film als Brief an den Vater – das was nie in Worte gefasst werden konnte. Knetmasse auf Glas: die eigene Perspektive steht der russisch-jüdischen Migrationsgeschichte der Eltern gegenüber. Drohnen werden durch KI menschlich, verweigern Kampfeinsätze und machen sich selbst unschädlich.
«Love Dad», Diana Cam Van Nguyen, CZ 2021, 12′ → Video
«Things That Disappear», Changsoo Kim, KR 2022, 10′30′′ → Video
«Please Let Me In», Peter Millard, GB 2022, 2′10′′ → Video
«Les liaisons foireuses», Chloé Alliez, Violette Delvoye, FR/BE 2021, 11′02′′ → Video
«Drone Sean Buckelew», US 2022, 15′34′′ → Video



© Bilder «Love Dad», «Things That Disappear», «Les liaisons foireuses»
 
Tourdaten, Programm, Gewinnerfilme:
Best of Fantoche → Die Gewinnerfillme 
On Tour, Best of Fantoche → Tourdaten 
Filmprogramm Fantoche 2022 → PDF
 

Rezensionen Fantoche 2016–2018
Fantoche 2018 #1, Chris the Swiss → Blog
Fantoche 2018 #2, meine Darlings → Blog
Fantoche 2018 #3, Another Day Of Live → Blog
Fantoche 2017, meine Darlings #2 → Blog
Fantoche 2017 #2, Loving Vincent → Blog
Fantoche 2016, meine Darlings → Blog

 

© Alle Bilder Presse Fantoche © Bilder & Video-Trailor bei den Animationsfilmemacher:innen

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