Bilder wie ein Sommerrausch

# Zufälle

Vier gute Ausstellungen. Sechs Maler:innen entdecken.
Himmel & Erde. Beglückende Eindrücke und wilde Gewitter.

Helen Dahm und Klodin Erb
Helen Dahm Museum, Oetwil am See (bis 31.10.2022)
Interessantes Aufeinandertreffen: Helen Dahm (1878–1968) und Klodin Erb (*1963). Beide Frauen haben eine aussergewöhnliche Persönlichkeit & Präsenz in ihrem Werk. Beide Künstlerinnen lassen sich nicht festlegen und stehen für ein vielschichtiges stilistisches Schaffen. Von Malerei zu Textil. Von Skulptur zum Aneignen des Interieurs & der Fenster als Medium. In dieser Ausstellung sind zwei meiner Lieblingsbilder von Helen Dahm zu geniessen, die fast nie zu sehen sind. Das Selbstbildnis aus Seifenblasen – umwerfend. Beide Künstlerinnen stellen sich die Frage, wie Malerei aussehen kann, auch innerhalb des gegebenen Genres und der Trägermaterialien: Portrait, Stillleben, Interieur, Landschaft. Zeitbedingt macht das jede auf eine andere Art. Symbole sind auffällig bei beiden – bei Helen Dahm bereits als Vorläufer der heutigen Emojis zu lesen. Im Fries ihrer Bettstatt thematisiert sie Persönliches im religiösen Kontext (Traum der goldenen Stadt). Ihr Werk: expressionistisch, archaisch-mythologisch, naturverbunden und abstrakt. 1956, mit 78 Jahren, erhält sie als erste Frau den Zürcher Kunstpreis. Klodin Erb wird im 2022 mit dem Prix Meret Oppenheim gewürdigt.
© Helen Dahm: Selbstbildnis mit Seifenblasen, 1952
© Helen Dahm: «Wiesenkerbel», 1962 | © Klodin Erb (Oval) «1 Blatt, aus «schlecht getroffen», 2009
© Klodin Erb, Flowers for Sale #2 & #31, 2021
© Foto von Walter Läubli: Helen Dahm am 75. Geburtstag mit ihren Puppen, 1953

Links, Infos:
Helen Dahm Museum, Oetwil am See. Offen Sa/So, 14:00–17:00 Uhr, bis 31. Oktober 2022
→ Leben von Helen Dahm, Portrait nachlesen
→ Virtuelles Bildarchiv Helen Dahm
→ Website Klodin Erb
 

Xenia Hausner
Ausstellung «True Lies», Museum Franz Gertsch, Burgdorf (19.3.–28.8.2022)
Die österreichische Künstlerin Xenia Hausner, 1951, schafft vorab räumliche Settings wie auf einer Theaterbühne oder wie in einem Film, indem sie in ihrem Atelier zuerst das Umfeld für ihre Gemälde schafft. Darin inszeniert sie ihre «echten Modelle» und schafft so die Komposition für ihre Bilder, die sie dann abfotografiert und später malt. Ihre Protagonistinnen erfüllen eine Rolle, die sie zum Ausdruck bringen, dirigiert von ihrer Regisseurin. So entstehen fiktionale Geschichten. Es sind grossformatige intensiv farbige Bilder, mit breitem Pinsel aufgetragen. Für Xenia Hausner ist die Welt eine Bühne und wir spielen darin Rollen.
© Xenia Hausner, Cage People, 2014
© Xenia Hausner, Rosemaries Baby, 2002
© Xenia Hausner (Detail, Close-up-Malstil)

Info & Links:
→ Website Xenia Hausner
Tipp: Als Tagesausflug, verbunden mit Besuch der Burgdorfer Altstadt und des Museums Bernhard Luginbühl
 

Richard Gerstl – Unbekannter Erneuerer
Ausstellung «Inspiration, Vermächtnis», Kunsthaus Zug (bis 4. Dezember 2022)
Der österreichische Maler Richard Gerstl (1883–1908) polarisiert. Wild, radikal, extrem und weit seiner Zeit voraus. Noch vor Oskar Kokoschka und Egon Schiele schuf Gerstl Werke voller stilistischer Neuerungen und brach mit allen Konventionen. Prägend in seiner Malerei sind die expressiven Pinselstriche, die er teilweise von Hand aufträgt und die sich immer mehr vom Motiv lösen. Seine vollkommene Freiheit ist in jedem Bild spürbar. Alles verselbständigt sich, Farben und Linien. Der Aufbruch ist sichtbar – in einer bewegenden Zeit. Seine Selbstportraits sind grandios: Vom blauleuchtenden Heiligenschein bis nackt lachend ohne eine Rolle darstellend. Das Selbstbildnis, das an Van Gogh erinnert – überwältigend. Meine Lieblingsbilder sind «Die Schwestern Karoline und Pauline Fey». Daneben das Halbportrait seiner Geliebten Mathilde Schönberg und das Familienportrait der Schönbergs (Musiker Arnold Schönberg und Mathilde). Meisterwerke mit schonungslosem Blick. Mit 25 Jahren nimmt sich Gerstl das Leben.
Interessant an dieser Ausstellung, wie Künstler:innen der 60er-Jahre, die von Gerstl stark beeinflusst wurden, seinen expressiven Gemälden gegenüber gesetzt werden: Z.B. Günter Brus mit Schwarz-Weiss-Malerei, Live-Performance-Video-Projektionen und Fotografien; Martha Jungwirth mit einem Zitat in Rosa-Lilatönen zu den zwei Schwestern; Werke von Herbert Brandl, Hermann Nitsch, Otto Muehl bis Georg Baselitz. Der satirische Film «Back To Fucking Cambridge» setzt die Beziehung zwischen Richard Gerstl und Arnold und Mathilde Schönberg ins Zentrum, alles spielt sich im Wiener Geistes-und Kulturleben ab. Sämtliche Schauspieler sind namhafte Persönlichkeiten. Das Drehbuch stammt von Otto Muehl. Kühn, dieser Einblick und Kontext. Diese Ausstellung ist mein Sommerrausch. Verbunden mit einem Seespaziergang und Altstadtbesuch der perfekte Ganztagesausflug.
© Richard Gerstl, Gruppenbild mit Schoenberg, 1908
© Richard Gerstl, Bildnis Mathilde Schönberg als Halbfigur, 1908
© Richard Gerstl, Die Schwestern Karoline und Pauline Fey, 1905
© Günter Brus, Selbstverstuemmelung I Aktion, Perinetkeller Wien, 1965 | © Martha Jungwirth, ohne Titel (Serie Richard Gerstl, Zwei Schwestern), 2019

Infos, Links:
→ Kunsthaus Zug, Richard Gerstl, bis 14.12.2022
→ Rahmenprogramm zur Ausstellung
→ Video
 

Varlin & Moser – zwei grosse Schweizer Maler
Ausstellung «Exzessiv!», Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen (bis 25.9.2022)
Realistisch expressionistisch. Die beiden Schweizer Maler Varlin (1900–1977) und Wilfrid Moser (1914–1997) stehen sich mit ihren rund 100 Werken bei gemeinsamen inhaltlichen Themenbogen gegenüber: Fleischschau, Todeszone, Teufelssteine, Delirium und Panik, Angst und Ekstase, Ende der Zeit, Sezierte Idyllen. Varlin und Moser haben sich gut gekannt und gegenseitig inspiriert, beide fanden in Zürich keine Anerkennung und fühlten sich eingeengt. Paris und Berlin, hier erleben sie in den Nachkriegsjahren ihre Freiheit, nicht zusammen, zu unterschiedlichen Zeiten, jeder auf sich gestellt. Die Eindrücke sehen wir im Werk ausgedrückt. Ihre Schlüsselerlebnisse manifestieren sich in kühnen Bildern. Gewaltig. Varlin trifft Gesichter und Stimmungen der Orte und Objekte. Energiegeladen.

Varlin wird 15 Minuten vor seiner Zwillingsschwester Erna geboren. Mit Mutter und Schwester lebt er jahrzehntelang in Wollishofen. In fremden Städten sucht Varlin immer als erstes Zuchthäuser, Irrenanstalten und Metzgereien auf: Diese Ort liegen in den ärmsten Vierteln und bilden damit den Boden für die Werke. Daneben porträtiert Varlin einfache Menschen und setzt ihnen wahre Denkmäler. Später folgen berühmte Namen mit Portrait-Auftragsarbeiten. Mit Hugo Lötscher und Friedrich Dürrenmatt ist er eng befreundet. Mutter und Schwester folgen Varlin jeweils mit kurzer Verzögerung an neue Orte. Jahrelang. Eine symbiotische Gemeinschaft. Mit 63 heiratet Varlin und lebt erstmals von Erna getrennt in Bondo, zusammen mit Franca. Patrizia wird geboren. Willy Guggenheim nimmt das Pseudonym «Varlin» auf Anraten seines Förderers Zborovski in Paris an. Der Name Guggenheim sei «beladen» mit Geld und Macht und eigne sich nicht für einen erfolgsversprechenden Künstlernamen. In New York wiederum nutzt Varlin seinen Geburtsnamen, um sich Türen zu öffnen. Varlin ist ein Original, direkt, spielerisch und frisch, kritisch kernig. Ich hätte ihn gerne gekannt.
© Varlin, Patrizia auf Schaukelpferd, 1971
© Varlin, Der Mann mit dem Hund, 1973–75 (Portrait Ernst Scheidegger)
© Varlin, Erna und Zita, 1972
© Varlin, D’Après Goya, 1925–1926

Wilfrid Moser studiert nie an einer Akademie, er ist Autodidakt. Mosers Entwicklung ist komplex und nicht linear: Von der Nachkriegsavantgarde des expressionistischen Realismus zu abstrakt konzeptueller Modernität. Über die Jahre wird Moser gegenstandslos abstrakt. Es sind «geschaute und empfundene existenzielle Zustände». «Kaum erkennbare Anklänge an die äussere Wirklichkeit und damit wirklichkeitsbezogen». Der Findling als Bergmassiv: «Signe de Piste», ein Schlüsselbild für sein Spätwerk. Im Dok-Film schauen wir ihm zu, wie ein Werk entsteht: Was ihn dazu inspiriert, wie er sich dem Objekt nähert und den Bildentwurf skizziert. Wir wohnen dem ganzen Malprozess bei, von den Überarbeitungen bis zur Vollendung. Eindrücklich spannend.
© Wilfrid Moser, Aux Halles, 1962
© Wilfrid Moser, Signe de Piste I, 1983
© Wilfrid Moser, L’arbre aux fleurs noires, 1990
© Wilfrid Moser, Detail Pinselstrich L’arbre aux fleurs noires, 1990

Info, Links:
→ Medieninfo Ausstellung Richard Gerstl
Tipp Ganztagesausflug: Altstadtbesuch, Schwimmen in der «Rhybadi» (Rheinuferstrasse 1, Schaffhausen) oder dem «Strandbad Niderfeld» (Hemishoferstrasse 69, 8260 Stein am Rhein). Mit Spaziergang entlang des Wassers und der Reben.
 

Zwei gute Kataloge
→ Richard Gerstl, Katalog bestellen, CHF 40 | → Varlin/Moser Katalog bestellen, CHF 39
 

© Alle Werke bei den Künstler:innen, Sammlungen, Museen oder Nachlassverwaltungen. Alle Bilder von Medieninfo-Museen oder fotografiert in Ausstellung von Irene Jost.

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